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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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und einer Königslibelle, watete er dann in die Strömung und ließ sich, als das Wasser ihm über die Hüften stieg, rückwärts fallen. Prustend wandte er sich den Zurückbleibenden noch einmal zu und hob winkend den Arm, bevor er mit kraftvollen Bewegungen der davongetriebenen Aussaat erschlagener Flußbremsen nachzuschwimmen begann.

Der Beherrscher der Heroen
    Ich sah fünf weiße Marmorstelen, alle schmal, fast mannshoch und mit eingemeißelten, geschwärzten Buchstaben des griechischen und lateinischen Alphabets beschrieben. Sie standen, in gerader Linie und dicht nebeneinander in die steinige Erde gesetzt, am Ende einer Straße, die sich durch baumloses, nach Thymian und Salbei duftendes Bergland auf der griechischen Insel Ios wand, und säumten so den Anfang eines Pfades, der vom Ende der Straße über eine sanfte Anhöhe hinweg auf eine Hügelkuppe führte. Die Kuppe wurde von einem Geviert aus niedrigen Trockensteinmauern gekrönt, einem verfallenden Grabmal, von dessen nach Westen gerichtetem Eingang sich in einer Art Vogelschau ein weiter Blick auf das tiefe Blau der südlichen Ägäis, auf scheinbar unbewohnte Nachbarinseln und das umliegende, unbebaute und menschenleere Bergland bot.
    An den rohen Mauern des Grabmals waren kein Name und keine Inschrift zu lesen und auch kein steinerner oder anderer, das Leben überdauernder Schmuck zu sehen. So unterschied sich das dachlose Bauwerk auch kaum von den Ruinen der Schaf- und Ziegenställe, die am Rand so vieler aufgegebener und verwilderter Terrassenfelder und Weiden der Insel im Gestrüpp hockten. Wie die Durchlässe in den Mauern dieser Stallruinen war auch der Türsturz des aus drei mächtigen, rohen Kalksteinplatten zusammengefügten Grabeinganges so niedrig, daß selbst ein kleiner Mensch, Totenträger oder Trauergast, ihn nur tief gebückt hätte passieren können. Aber anders als die von den Trümmern eingestürzter Dächer verschütteten Stalleingänge war dieser hier mit zusammenhanglosen Bruchstücken einer beschriebenen Steintafel mehr verbarrikadiert als verschlossen, den Resten einer zerschlagenen Schrift.
    Allein die fünf weißen, von diesem Eingang einige hundert Schritt entfernten und vom Grabmal nicht mehr sichtbaren Stelen trugen Hinweise, wessen Leichnam dieser felsige Hügel bergen sollte, trugen ein in fünf Sprachen, allen voran der Landessprache, gemeißeltes Zitat aus den Schriften des Geschichtsschreibers und Kämpfers gegen die Tyrannei, Herodot von Halikarnaß, der im fünften vorchristlichen Jahrhundert als Überzeugung seiner Zeitgenossen überliefert hatte:
    AN DIESEM ORT DECKT DIE ERDE
    DAS GEHEILIGTE HAUPT
    DES BEHERRSCHERS DER HEROEN
    DES GÖTTLICHEN HOMER
    Ich hatte mich dem Grabhügel über eine Reihe tief eingeschnittener Felsenbuchten und dann über einen weglosen, dornigen Abhang genähert, setzte mich, nachdem ich die Reihe der Stelen hinter mir gelassen und den Pfad zum Grabmal emporgegangen war, auf einen Stein an der Sonnenseite des Bauwerks und wusch mir mit Trinkwasser aus meiner Flasche die von zahllosen Dornen gezogenen, wirren Blutspuren von den Beinen. Die Hügelkuppe lag hundert Meter, vielleicht höher, über dem Meeresspiegel in zunehmenden und wieder abflauenden abendlichen Brisen, aber die Sonne schien noch nichts von jener Kraft verloren zu haben, die im umliegenden, bereits von Schiffsbauern der Antike kahlgeschlagenen Bergland nur kniehohe Zwergsträucher duldete – Phönizischen Wacholder, Salbei, Wundklee, Thymian und Brandkräuter, aber keine Bäume, keinen Schatten. Die nackten Abhänge dufteten nach dornbewehrten oder mit pelzigen Lanzenblättern besetzten Blumen und Kräutern, deren Aroma vom Wind selbst über felsige Küstenstriche ohne jeden Bewuchs getragen wurde.
    Ich spürte die Wärme der unbehauenen Steine des Grabmals in meinem Rücken und betrachtete das Bild, das dem als ersten und wirkungsmächtigsten Dichter des Abendlandes verehrten Toten als immerwährende Aussicht zugedacht worden war:
    Im Nordwesten lag Naxos, die Insel der von einer sterblichen kretischen Prinzessin zur Göttin erhobenen Ariadne: ein fernes, scheinbar unbewohntes Gebirge, das auf Dunstbänken zu schweben schien. Davor, und nach meiner Karte kaum sechs Seemeilen vom Grabmal entfernt, ragten die Felswände des nach dem in den Olymp entrückten Selbstzerfleischer Herakles benannten Iraklia jäh aus der Dünung. An klaren Tagen mußten im Nordosten auch die Höhenzüge der Insel Amorgos zu sehen sein, aber an

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