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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Vierzehn Tote und Verschollene wurden beklagt, und ihre Zahl wäre größer, viel größer gewesen, hätte ein zwölfjähriges Mädchen nicht, wenige Augenblicke bevor eine graue meterhohe Wasserwand auf die strandnahen, ebenerdigen Häuser des Dorfes zuraste, Alarm geschlagen. Eine breite Betonspur, die für den wiederkehrenden Notfall vor Jahren als
Tsunami Evacuation Route
angelegt worden war und vom Meer über einen mit Eukalyptusbäumen bewachsenen Steilhang in die nebelige, rettende Höhe führte, hatte viele der Gewarnten entkommen lassen.
    Die Welle hatte die Mole und alle vertäuten Fischerboote zerschlagen und neben vielen Wohnhäusern auch die Schule, den Kaufladen und das Gemeindehaus bis auf die Grundmauern zerstört. Kaum ein Bewohner der Insel war vom Unheil verschont geblieben. Wer keinen Toten beweinen mußte, sprach von Glück. Am Ende aber hatte das Wasser auch die Grenze zwischen den Orten der Lebenden und denen der Toten verwischt:
    Der Mann im blauen Overall arbeitete am Fuß einer Felswand am Rand des Dorfes, dort, wo einmal ein kleiner, die Geschichte der Insel von ihrer Entdeckung im sechzehnten Jahrhundert bis zum Tag der jüngsten Flut bewahrender Friedhof gelegen hatte – und nun auch wiedererstehen sollte. Hier ruhten nicht nur die Toten der Insel, sondern auch die Opfer von Schiffbrüchen und Seegefechten, spanische, englische, chilenische und deutsche Matrosen, die den Pazifik nach Glück, Macht und Reichtum abgesucht und Jahre und Jahrzehnte auf See verbracht hatten, um schließlich in einer Bucht am Ende der Welt nichts zu finden als den Tod.
    Zwischen den Resten ihrer Gräber lagen an diesem Nachmittag Fenster- und Türrahmen zerstörter Häuser, zerfetzte Wellblechbahnen, eine aus ihrer Verankerung gerissene Hollywoodschaukel und ein ölschwarzer Motorblock wie das herausgerissene Herz eines Ungeheuers … Kreuze und Grabsteine dagegen waren wie im Tausch gegen die hier verstreuten Trümmer des täglichen Lebens unter dem Druck der Wasserwand davongewirbelt und lagen nun weit von den Orten der ewigen Ruhe zwischen den Fundamenten verschwundener Häuser, zerschmetterten Dächern und ins Leere ragenden Betonsäulen.
    Ich kam in diesen Nachmittagsstunden eben von einer Wanderung zurück, die mich von San Juan Bautista durch Eukalyptus- und Bergurwald in jene verlassene, von steil aufschießenden Felswänden umschlossene Bucht geführt hatte, in der Archäologen in einer Höhle, die wie eine erstarrte Magmablase an einem steinigen Strand lag, Werkzeugreste und einen Navigationszirkel des schottischen Freibeuters Alexander Selkirk entdeckt hatten.
    Selkirk, Steuermann auf einem britischen Kaperschiff, war im Jahr 1704 nach einem Streit über die von Bohrmuscheln zerfressene Seetüchtigkeit des Dreimasters, auf dem er als
Sailmaster
angeheuert hatte, von seinem Kapitän in dieser Bucht ausgesetzt worden und hatte bis zu seiner Rettung vier Jahre und vier Monate später in einer verzweifelten Einsamkeit überlebt, die ihn an manchen Tagen dem Wahnsinn, an anderen dem Tod nahe gebracht hatte. Die einzigen Menschen, denen er in diesen Jahren begegnete, Matrosen eines spanischen Schiffes, die anlandeten, um Frischwasser aufzunehmen, und in dem in Felle gehüllten Insulaner einen englischen Piraten und Feind zur See erkannten, wollten ihn töten. Er entkam ihnen mit knapper Not in die verhaßte Wildnis. Nach seiner glücklichen Rettung durch ein britisches Kaperschiff, seiner Rückkehr in die bewohnte Welt und in sein altes, gewalttätiges Leben, sollte sein Schicksal den Schriftsteller Daniel Defoe zu einen Roman beflügeln, der den Chronisten mittlerweile als der erste in der englischen Literaturgeschichte gilt:
Robinson Crusoe
.
    Defoe verlegte seine Bühne der Einsamkeit allerdings in die Karibik und veredelte den ausgesetzten Freibeuter zum schiffbrüchigen Kauffahrer: vor den von Urwald überwucherten, nahezu senkrecht aufragenden Bergzügen hinter San Juan Bautista, vor den stürmischen Winden mit ihren Wolkenwirbeln über unersteigbaren Gipfeln ein naheliegender Kunstgriff. Welcher Leser wollte denn einem Helden bloß in die graue Wirklichkeit und auf eine stürmische, regenreiche Insel folgen, die noch dazu immer wieder von rasenden Tsunamis bedroht wurde, die fernen Vulkanausbrüchen und tektonischen Verwerfungen folgten? Mit ihrer von Tiefdruckfronten und einem aufgewühlten Pazifik gleichermaßen bedrängten Schroffheit glich die Isla Robinsón Crusoe selbst an einem Sommertag

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