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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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eher einem Verbannungsort als einem Schauplatz tropischer Abenteuer.
    Auf den Seekarten zu Selkirks Zeiten und noch lange danach war die Insel unter jenem navigatorisch einfachsten Namen geführt worden, auf den sie ihr Entdecker, der spanische Kapitän Juan Fernández, bereits 1574 getauft hatte:
Isla Más a Tierra
 – Die dem Land (dem südamerikanischen Kontinent im Vergleich zur benachbarten
Isla Más Afuera
) nähere Insel. Erst der Weltruhm einer Phantasiegestalt sollte in neuerer Zeit in der Hoffnung auf touristischen Gewinn dazu führen, das Inselpaar umzutaufen: die eine, die nähere, nach Robinson Crusoe, die kleinere, entferntere, unbewohnte nach dem historischen Vorbild der Romangestalt:
Isla Alejandro Selkirk.
    Wie Erfindung und Wirklichkeit in der kartographischen Umtaufe schienen an diesem Nachmittag auch die Welten der Lebenden und der Toten ineinanderzufließen: Der Mann im blauen Overall zerschlug den Rest einer Einfriedungsmauer, vielleicht war es auch das Fragment eines Gehsteigs oder einer zerstörten Strandpromenade aus vulkanischem Gestein, um aus den Trümmern eine Grabeinfassung genau dort wieder einzusetzen, wo sie nach seiner oder der Erinnerung eines Auftraggebers vor der Flut gelegen hatte. Andere Hinterbliebene und Nachkommen hatten offensichtlich schon vor ihm einige Ruhestätten wieder an den ungefähren alten Orten errichtet. Dabei schien aber jeder seiner eigenen Erinnerung gefolgt zu sein, denn die wiederhergestellten, neu gefaßten Gräber lagen nicht in Reihen oder anderen Symmetrien, sondern etwa so, wie sich vielleicht eine Menge müder, erschöpfter Menschen auf diesen schwarzen Sandgrund gelagert hätte – die Körper nach dieser und jener Richtung zeigend, manche nebeneinander und nahe zusammen, andere allein und abseits liegend, alle Lagen und Haltungen aber ohne die Strenge von Lineal und Lot.
    Der Mann im Overall legte seine Spitzhacke zur Seite, bückte sich nach einer Bierdose, nahm einen Schluck und setzte sich dann für eine kurze Atempause auf den Trümmerhaufen. Danach begann er, die Brocken wie nach einem in den schwarzen Grund gravierten Plan zu einer Grabeinfassung zu ordnen. Am Ende stellte er ein aus Beton gegossenes kleines Kreuz, dessen Oberfläche noch den Abdruck der Jahresringe des Verschalungsholzes trug, ans Kopfende und legte ein Bukett aus blauen und roten Plastikblumen auf das neue Grab. Die Füße eines unter dieser Einfassung bestatteten Toten hätten in die Berge gewiesen, sein Kopf aber gegen das Meer.
    Ich glaubte zunächst, daß der Mann, gebeugt von seinen Erinnerungen oder seiner Trauer, ein Gebet verrichten wollte, als er am Ende seiner Arbeit lange stillstand und dann vor dem wiedererrichteten Grab auf die Knie sank. Aber stattdessen begann er die steinerne Fassung wieder auseinanderzunehmen und die Brocken, die Plastikblumen und das Kreuz noch einmal anders und neu zusammenzufügen, als ob er erst nach einem abschließenden prüfenden Blick den Fehler an der Ausrichtung dieser Ruhestätte erkannt hätte. Einen Fehler, der nur gutzumachen war, indem er noch einmal von vorne begann:
    Wenn die Lebenden dieser Insel und noch ihre Toten in den ersten Jahren der Ewigkeit immer wieder vor der Gewalt und der Übermacht des Ozeans beschützt werden mußten, dann sollte der hier, irgendwo hier Bestattete die heranrasenden Wellen der Zukunft nicht in jener hilflosen, ausgesetzten Lage erwarten, die der Flut die breiteste Angriffsfläche bot. Und so wies die Ruhestätte, als der Mann im Overall die Brocken endlich neu zusammengefügt hatte, wie ein gegen die Brandung gerichtetes Boot mit dem Kopfende gegen die wolkenverhangenen Berge, das Fußende aber zeigte … nein: stemmte sich gegen das anrollende, alles umfassende und alles verschlingende Meer.

Beifang
    Ich sah einen Fischer, der fluchend Kurs hielt auf den Hafen von Baltimore im Südwesten Irlands. Er umklammerte das Steuerrad seines Kutters, als kämpfte er gegen die Sturzseen eines Orkans. Dabei war das Meer ruhig, im Windschatten unbewohnter Felseninseln, die der Kutter passierte, fast spiegelglatt. Aber er hatte etwa fünf Seemeilen nordöstlich einer
Stags
genannten Felseninsel ein vollgelaufenes Boot und zwei darin bereits bis zu den Knien im Wasser stehende Insassen ins Schlepptau genommen und mußte nun Riffen, an denen er ansonsten achtlos vorüberglitt, in langsamer Fahrt ausweichen.
    Das vollgelaufene Boot gehörte einem Steinmetz aus Glengarriff, der mich eingeladen hatte, ihn

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