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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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aber bis zu seinem nächsten Besuch brennen sollte, und um die Blumen zu pflegen, die er den Jahreszeiten entsprechend auf dem Grab pflanzte. Nach dieser Arbeit wollte er diesmal einen seiner Söhne in einem Gastgarten treffen, der weit außerhalb des Dorfes inmitten von Weizen- und Maisfeldern lag.
    Bei allmählich steigender Temperatur begann sich das Leben auf dem Marktplatz an diesem Vormittag in den Schatten zu verlagern, dorthin, wo die Busse am Apothekergarten hielten und abfuhren. Wer die Wahl hatte und nicht zu einem der Läden oder Hauseingänge in der prallen Sonne mußte, verlegte seinen Weg in den Schatten, und so ergaben sich für den wartenden Lehrer mehr Gelegenheiten als sonst, einige Worte mit ihm bekannten Passanten zu wechseln. Er saß auf der Parkbank wie vor einer Bühne, auf der die Darsteller und Statisten eines vormittäglichen Lebens an ihm vorüberzogen, Lieferanten, Straßenarbeiter, Ladenkundschaft und Patienten, die aus der Arztpraxis am Platz kamen und auf dem Weg zur Apotheke gerne bereit waren, einem Bekannten ihre Beschwerden oder die lindernde Wirkung von Heilmitteln zu beschreiben.
    Als die Abfahrtszeit seines Busses näher kam, begann der Lehrer mit seiner Freundin die Vorhaben dieses Tages zu besprechen, die überfällige Neubepflanzung der beiden Familiengräber auf dem Dorffriedhof, das Treffen mit seinem Sohn im Gastgarten in den Feldern. Die Freundin hörte gerade seine Überlegungen zur Wahl der Friedhofsblumen und zur Speisenfolge des Mittagessens, während sie den Springbrunnen in der Mitte des Marktplatzes betrachtete, als er plötzlich verstummte. Sie sah die Fontäne des Brunnens, hörte das Plätschern des fallenden und fallenden Wassers und dachte zunächst, ihm sei vielleicht ein plötzlicher Gedanke gekommen, der das, was er gerade sagen wollte, verdrängt hatte – und wandte sich vom Anblick des Wassers ab und ihm zu:
    Sein Kopf war auf die Brust gesunken, seine Augenlider flatterten, schlossen sich dann. Er saß da, als wäre er im eben gesprochenen Satz eingeschlafen. Sie stieß ihn an und lachte. Er spielte manchmal diesen Schläfer bloß, um dann, wenn er zu einem ihm peinlichen Zeitpunkt tatsächlich eingenickt war, sagen zu können, er habe nur gespielt, ja, nur gespielt. Denn von der Müdigkeit, vom Schlaf überwältigt zu werden war ihm stets etwas gewesen, was verheimlicht und zur Not geleugnet werden mußte. Seit ihn der Krieg als jungen Mann von seinem an einem tosenden Wasserfall gelegenen Eltern- und Geburtshaus auf ein Minensuchboot im Schwarzen Meer verschlagen hatte, war jedes Einnicken mit dem Gedanken an den lebensgefährlichen Sekundenschlaf eines wachhabenden Matrosen auf hoher, stürmischer See verbunden. Er sprach selten darüber, und wenn, zitierte er dazu immer eine Zeile von Detlev von Liliencron:
Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen kommen wie rasende Rosse geflogen
 … Er hatte sich in den tosenden Sturmnächten an Bord eines vollständig verdunkelten Bootes oft danach gesehnt, aus der Finsternis, aus den schwarzen Brechern, in denen Treibminen tanzten, in den Schlaf flüchten zu dürfen.
    Aber jetzt reagierte er auf keine Berührung, kein Wort, kein Zeichen, sondern lehnte wie ein im Warten eingeschlafener Fahrgast in den Armen seiner Freundin. Ein Arzt, der wenig später die vorgeschriebenen Formulare ausfüllte, sagte, daß der Lehrer zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon tot war, und nannte dann neben medizinischen Begriffen für eine besondere Form des Herztodes auch einen Namen, der den drei Söhnen und der Tochter des Lehrers deutlicher als jede andere Bezeichnung in Erinnerung bleiben sollte: Sekundentod.
    Vieles, sehr vieles wurde im Schatten des Apothekerhauses versucht, um den immer noch sitzenden, lehnenden, wie schlafenden Mann wieder ins Leben zurückzuholen. Zuerst kam der von einem Passanten gerufene Apotheker aus seinem Laden gerannt und setzte sich neben das Paar, sprach den Lehrer immer wieder mit seinem Namen an, fühlte seinen Puls und erhob sich dann, um den Notarzt zu rufen. Auch der kam Minuten später im Laufschritt und verfügte, der Mann solle auf das Pflaster des Marktplatzes gelegt werden. Dort versuchte er gezählte achtundzwanzig Minuten, ihn wiederzubeleben, während sich konzentrische Kreise von Passanten um das Geschehen bildeten. Zwei Busse, auch der planmäßige des Lehrers, hielten, ließen Fahrgäste aus- und andere einsteigen, fuhren wieder ab. Seit ein Rettungswagen des Roten Kreuzes mit

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