Atlas eines ängstlichen Mannes
Spinnerhaie, Weißspitzen-Riffhaie und mir die säbelförmigen Rückenflossen von Fuchshaien als besondere Delikatesse anbieten.
Die Menschen, die den Tigerhai am Straßenrand umdrängten, waren weder Neugierige noch Helfer, sondern Kunden: Der Hai wurde an Ort und Stelle des Unfalls vom unverletzten Fahrer des Kleintransporters und einem Helfer mit Beil und Messern zerteilt und stückweise an die Meistbietenden verkauft. Wozu, sagte unserer Fahrer, sollte der Hai unter Fliegenschwärmen in der Hitze liegen, bis man ihn endlich auf ein Ersatzfahrzeug hieven konnte, wenn er sich als das Angebot der Stunde auch gleich an der Straße verkaufen ließ?
Wer sich als Kunde für ein Stück blutiges Fleisch, ein Stück der Rückenflosse oder auch für einige der wie gedrechselten aus dem Kiefer gehackten Zähne entschied, nahm seinen Kauf in einem jener Plastiksäcke in Empfang, die der Gehilfe in einem dicken Packen am Gürtel trug – bunte, hauchdünne, wasser- und staubdichte Taschen, die sich am Ende eines Heimwegs in unverwüstliche Fetzen verwandeln und, eine Weile noch von bluthungrigen Fliegen umschwirrt, dann aber trocken und knisternd über Straßen, Pisten, leeres Land taumeln würden, bis sich ein Zweig fand, ein Dornbusch, irgendein Halt, der sie als Grenzzeichen einer verheißungsvollen, vielfarbigen Welt oder als Gebetsfahnen in der Wüste flattern ließ.
Blut
Ich sah eine weinende Frau in der Sakristei der Pfarrkirche von Roitham, einem oberösterreichischen Voralpendorf in Sichtweite von Gebirgszügen mit Namen wie
Höllengebirge
und
Totes Gebirge
. Die Frau war gekommen, um mit dem Pfarrer, der eben seine scharlachroten Meßgewänder anlegte, den Tag, die Stunde und die Chorgesänge für das Begräbnis ihres einzigen Sohnes festzulegen. Der Siebzehnjährige war am Vorabend im Schlafzimmer seiner Eltern von einem Gendarmen erschossen worden.
Als die Weinende am Mesner vorbei, der sie zurückhalten und in gedämpftem Tonfall besänftigen wollte, in die Sakristei eindrang, zog ich gerade einen scharlachroten Schulterkragen über mein Meßdienerchorhemd, rot, weil der Gottesdienst im Gedenken an das Blut eines frühchristlichen Märtyrers gefeiert werden sollte.
Laß sie, sagte der Pfarrer zum Mesner und küßte gemäß den Ankleidevorschriften seine Stola, eine Brokatschärpe, bevor er sie um seine Schultern legte: Laß sie nur, laß sie.
Sie gebe ja zu, sagte die Frau, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen, über Mundwinkel und Kinn auf ihre schwarze Bluse tropften und dort noch schwärzere Spuren hinterließen, sie gebe ja zu, daß ihr Adi ein wilder junger Mensch gewesen sei. Er habe getrunken, er habe gerauft und, ja, er habe gestern das Kriegerdenkmal beschmutzt. Aber mußte man ihn deswegen erschießen? Mußte ihn der Inspektor deswegen durch die geschlossene Schlafzimmertür erschießen? Siebenmal sei Adis Darm von den Bauchschüssen durchschlagen worden, siebenmal! Der Arzt im Welser Krankenhaus habe die Löcher gezählt, bevor er ihren Sohn, der bei dieser Zählung schon tot war, wieder zugenäht habe.
Nach der Messe, sagte der Pfarrer, wir reden nach der Messe. Es ist traurig. Aber er hätte aufmachen müssen. Adi hätte die Tür aufmachen müssen.
Die Weinende schwieg, schüttelte den Kopf.
Ich hatte als Meßdiener schon viele Erwachsene weinen sehen – in der Aufbahrungshalle vor offenen Särgen, in den Kirchenbänken während des Requiems, an den Gräbern, auch vor Rührung und Glück bei Taufen und Hochzeiten –, aber der Tod war immer etwas gewesen, das vor allem die anderen betraf. Wer starb, das waren die anderen. Tränen gehörten zu dem vielfältigen und dramatischen Schauspiel, an dem ich je nach liturgischem Anlaß in schwarzen, grünen, violetten oder roten Kostümen teilnahm. Diesmal war der Tod allerdings näher als sonst. Ich hatte den Sohn der Weinenden gekannt, ich hatte ihn gefürchtet – und bewundert.
Adi widersprach Erwachsenen, ohne zu zögern, spottete über ihre Ermahnungen und drohte ihnen manchmal mit Schlägen. Unerschrocken ging er auf kläffende Hunde zu und steckte ihnen die Faust ins Maul. Und manche seiner Gegner und Feinde zogen sich schon vor seiner bloßen Drohung zurück, er werde ihnen mit dieser Faust ins Gesicht schlagen, mit der nackten, geballten Faust ins Gesicht. Daß er dazu imstande war, hatte er bewiesen.
Die wütende Furchtlosigkeit, mit der er einer empörten Welt gegenübertrat, war zwar beängstigend, wurde aber
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