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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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allen Farben, Abfall, wie er im Jemen vor jeder Stadt, jedem Dorf, jeder Oase aufflog und nach Einkäufen und Marktgängen dem Wind überlassen wurde, der ihn dann durch die Wüste oder eine von Glasscherben blinkende Küste entlang bis zum ersten Hindernis trieb, das er damit schmücken konnte – Dornsträucher, Masten, Antennengestrüpp. Dort flatterte der Müll, bis der Wind sich drehte und Fähnchen für Fähnchen wieder abnahm und weitertrug, hinaus in die Wüste oder hinaus auf das sandfarbene Meer.
    Das Meer. Immer wieder hatte der Fahrer unterwegs vom Meer gesprochen, das an diesem Vormittag unter dem Quecksilber von Luftspiegelungen lag, gesprochen von der Vielfalt, Buntheit und Pracht des unterseeischen Lebens, das er, obwohl Nichtschwimmer, immer wieder durch eine Taucherbrille bewunderte. Über die Bordwand eines Fischerbootes gebeugt, nur den Kopf im Wasser, schwebte er dann mit angehaltenem Atem über dem Grund von Lagunen dahin: Vielleicht habe Allah die Bewohner der an das Rote Meer grenzenden Wüstenländer für die Hitze, die Dürre und Unfruchtbarkeit an ihren Küsten mit dem Fischreichtum und aller unter dem Meeresspiegel verborgenen Pracht entschädigen wollen – Korallen, Seeanemonen, Medusen, schwebenden, leuchtenden Tiefseebewohnern, Wesen aller Farben und Formen, die einem Landbewohner so phantastisch und fremd wie von einem anderen Stern erscheinen mußten. Auch an Al Hudaydah sei doch das Meer das Schönste, der Hafen, der Fischmarkt … Der Fischmarkt!, die Stadt sei nirgendwo märchenhafter als dort. Glitzernde Fische in einem Wüstenland!
    Wir hatten die Vororte Al Huddaydahs, Baracken, Wellblechhütten, Werkstätten, in denen die blauen Feuer von Schweißern flackerten, bereits hinter uns, sahen das in der Hitze flirrende Grün staubiger Palmen und baumhoher Kathsträucher und waren, wie sich zeigen sollte, nur noch wenige hundert Meter von Hafen und Fischmarkt entfernt, als ein umgestürzter Transporter unseren Fahrer zum Halten zwang: Ein himmelblauer Dreirad-Pritschenwagen war offensichtlich mit einem Linienbus zusammengestoßen und lag seitlich gekippt, mit zerschlagener Frontscheibe, eingedrückter Kabine und einer seltsam verdrehten, blutüberströmten Ladefläche in einer Öllache. An dem staubbedeckten Bus war nur ein Scheinwerfer zerschlagen und eine himmelblaue Schramme zu sehen.
    Eine dichte Menschenmenge umdrängte offensichtlich ein Unfallopfer, das neben dem gekippten Fahrzeug lag. Zwischen Beinen und bodenlangen Gewändern, die mir die Sicht auf den Gegenstand der Neugier oder der Hilfsbereitschaft verwehrten, sah ich zwei Blutrinnsale, eines versickerte im Sand des Straßenrandes, ein breiteres war über den rissigen Asphalt bis an ein Schlagloch in der Fahrbahnmitte gekrochen, dort zum Stillstand gekommen und nahezu schwarz geworden.
    Unser Fahrer war ausgestiegen, hatte sich der Menge angeschlossen und wollte sich bis zur Blutquelle vordrängen. Als er nach kaum einer Minute wieder aus dem Gedränge auftauchte, winkte er mir, winkte seinen Passagieren aufgeregt zu: Wir sollten ihm nachkommen!, wir sollten sehen, was hier geschehen war.
    Ich glaubte, den Geruch von Blut in der Nase zu haben, sah die Fliegen über den Blutrinnsalen. Auch die anderen Passagiere rührten sich nicht. Aber der Fahrer fuchtelte, winkte beharrlich weiter.
    Ich ging schließlich auf ihn zu, wütend, um ihm zu sagen, daß ich keine Schwerverletzten oder Toten begaffen wollte, und hatte ihn beinahe erreicht, als einige Zuschauer oder Unfallzeugen sich nach mir umdrehten, andere traten sogar zurück, um dem Fremden einen Blick auf das zu ermöglichen, was der Rest der Menge immer noch verbarg.
    Und endlich sah ich, was von der blutigen Ladefläche des Kleintransporters in den Staub geschleudert worden war – einen etwa vier Meter langen Tigerhai. Auf dem Eisengrau seiner Haut zeichnete sich noch jenes Muster ab, das ihm seinen Namen eingetragen hatte und an die Wellenschatten erinnerte, die über den sandigen Boden einer Bucht huschten – eine Tarnung, die der Tigerhai, wie ich auf dem Fischmarkt erfahren sollte, im Lauf seines Lebens verlor.
    Der Hai hatte zu dem riesigen Fang gehört, der an diesem wie an jedem Morgen von einer Armada von Fischerbooten an den Kais von Al Hudaydah angelandet wurde. Die Fische lagen dort oft noch flossenschlagend und mit den Kiemen fächelnd, ihren Käufern und wartenden Händlern zu Füßen. In den Markthallen sollte man mir Seidenhaie zeigen,

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