Atlas eines ängstlichen Mannes
verklärt durch den Umstand, daß er, der Unbesiegbare, sich zu einem Jüngeren, Schwächeren großzügig hinabbeugen konnte. Wer zu schwach oder zu ängstlich war, um ihm ein ernstzunehmender Gegner zu sein, durfte kleine Dienste und Botengänge für ihn erledigen und wurde dafür nicht nur verschont, sondern belohnt.
Hatte ich ihm beispielsweise aus dem Lebensmittelladen Kaugummi geholt, weil er die Fotos von Filmstars sammelte, die dieser Kostbarkeit beigelegt waren, dann konnte ich den Kaugummi als Lohn behalten, während er das Bildchen einer schönen Frau oder eines Helden betrachtete und zurückgebliebenen Puderzuckerstaub vom Hochglanz blies. Den Kindern des Gemeindearztes hatte er einen ganzen Winter lang den Schlitten für unzählige Fahrten einen Steilhang hinaufgezogen, weil ihm der Arzt nach einer Rauferei eine Platzwunde genäht hatte, ohne ihm Vorwürfe zu machen. Und vom Kieselgrund einer Quelle am Fluß holte er im Sommer vor Badepublikum, das ihn mit kleiner Münze bezahlte, ein Knäuel ineinander verknoteter Regenwürmer, löste einen Wurm aus der Verstrickung, hielt ihn am ausgestreckten Arm hoch, ließ ihn dann in seinen weit geöffneten Mund fallen und verschluckte ihn. Wer die Darbietung genoß, ohne zu zahlen, konnte mit Schlägen bestraft – oder begnadigt werden.
Am Tag seines Todes hatte Adi betrunken seine Notdurft auf den Stufen des Kriegerdenkmals verrichtet und geschrien, ein Kranz aus Scheiße sei alles, was vor solchen Denkmälern abgelegt werden sollte. In der Schlägerei, die dieser Schändung folgte, mußte er allerdings vor der Übermacht empörter Zeugen, einem Mitglied des Kameradschaftsbundes und zwei Blechbläsern der Musikkapelle, flüchten. Noch im Davonrennen versprach er wiederzukommen, schrie, er werde ein Messer holen und wiederkommen.
Das Kriegerdenkmal bewahrte die Namen gefallener Dorfbewohner aus zwei Weltkriegen in vergoldeter Gravur auf schwarzem Granit, zwei lange Listen, die ein erschöpfter oder schwer verwundeter, in Beton gegossener Soldat bewachte. Das Denkmal stand an der Südfront der Kirche zwischen zwei Maulbeerbäumen, die im Sommer so viele Früchte trugen, daß der Mesner jeden Morgen die Beeren vom Kiesweg kehren mußte, weil Kirchgänger, die über einen Teppich aus abgefallenen Maulbeeren zur Messe gingen, auf dem steinernen Kirchenboden Spuren hinterließen, als wären sie durch Blut gewatet.
Adis Drohung, sein Messer zu holen, war jedenfalls den Dorfgendarmen angezeigt worden, und die hatten sich zu zweit auf den Weg gemacht. Der Betrunkene flüchtete bei ihrer Annäherung ins Haus und dort in das Schlafzimmer der Eltern und schwor dann durch die von innen verriegelte Tür, alle und jeden mit einer Axt, einem Messer, einem Prügel umzubringen, der ihn nicht in Ruhe schlafen ließe. Er wolle jetzt schlafen.
Er hatte aber weder eine Axt noch ein Messer, noch einen Prügel bei sich, als einer der Gendarmen, nach einigen vergeblichen Aufforderungen an den Verschanzten, sich zu ergeben, ein ganzes Magazin aus seiner Dienstpistole durch die geschlossene Tür feuerte, die unter der Wucht der Schüsse splitternd aufsprang.
Am nächsten Morgen hatte es in der Sakristei für einen Augenblick den Anschein, als wollte der Pfarrer die Weinende umarmen. Er breitete seine Arme aus, legte ihr dann aber nur die Hände besänftigend auf die Schultern und nickte dem Mesner zu. Und der nahm sie am Arm und führte sie zu ihrer Bank, hinaus ins kalte Kirchenschiff. Weil er aber in der Aufregung dieses Morgens vergessen hatte, die Maulbeeren vom Kiesweg zu kehren, sah ich, als ich dem Pfarrer auf dem Weg zum Altar voranging, auf den Steinplatten des Kirchenbodens blutige Tritte.
Lichtbogen
Ich sah ein wanderndes Licht auf einem der ungeheuren Stahlbögen der
Harbour Bridge
in der Bucht von Sydney. Nur ein Funke unter Myriaden anderen bewegten und unbewegten, strahlenden, fließenden oder glimmenden Lichtern der größten Stadt des australischen Kontinents, stieg dieses eine, winzige Licht wie ein Stern am Rande der Sichtbarkeit langsam höher und dem Scheitel des Brückenbogens entgegen, der himmelhoch über dem ruhigen Wasser der Hafeneinfahrt lag.
Ich stand am Fenster eines Hotelzimmers im neunzehnten Stockwerk und hatte eben das Wahrzeichen der Stadt, die kostbar schimmernde Muschel des Opernhauses, im Fernglas betrachtet, war dann zu hell erleuchteten Wolkenkratzern, Glastürmen von Banken, Handelshäusern und Versicherungen geschwenkt, auf die der Bogen
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