Atlas eines ängstlichen Mannes
Werkzeuge und Kaviar bis zu Waffen, Munition und Drogen alles, was nachgefragt wurde und was anderswo entweder gar nicht oder nur um ein Vielfaches des im Stadion erfeilschten Preises zu haben war.
Zwischen den Budenzeilen auf den Rängen, auf denen sich einst die Chöre der Anhänger einer Nationalmannschaft oder großer Clubs wie
Legia Warschau
und
Polonia Warschau
die Hälse vor Begeisterung heiser geschrien hatten, wuchsen jetzt Schlehdorn, Brennesseln und Klee. Die ehemals weißen, vom Rost gefleckten Fußballtore standen noch, aber durch sie hindurch und von keinem Netz gehalten verflog allein die Zeit.
Wenn es nach einem Markttag Abend wurde und im leeren Stadion nur Abfall und Fetzen zurückblieben, die der Wind über verblaßte Seiten- und Torlinien und alle bedeutungslos gewordenen Begrenzungen hinweg, über die Aschenbahnen und das zur sumpfigen Wiese verwilderte Spielfeld trieb, dann wurde es hier, sagte mein Freund, so beklemmend menschenleer, wie es wohl auch in den Schuttwüsten am Ende des niedergeschlagenen Warschauer Aufstands gewesen war. Dann wurde dieses Stadion, dem der Abriß vor einer kommenden Fußballeuropameisterschaft bevorstand, tatsächlich zum Mahnmal, dann konnte einem tatsächlich die endlose Prozession der Toten in den Sinn kommen, aus deren zerschossenen, zerbombten und gesprengten Häusern und Wohnungen diese Arena erbaut worden war, die in der Dämmerung eine unbegreifliche, unverzeihliche Menschenleere umschloß.
Der Prediger hatte jetzt die ersten Ränge erreicht und begann einen mühsamen Aufstieg zwischen den mit durchsichtigen Plastikplanen verhängten Marktständen, von denen Regenwasser troff. Vielleicht kannten ja auch einige von den Händlern das Gerücht, von dem mir mein Freund erzählte, während wir dem Prediger nachstiegen: Der Mann sei ein harmloser Säufer, ein ehemaliger Spieler der dritten oder vierten Reserve des Traditionsklubs
Legia Warschau
, ein Flügelstürmer, der es kein einziges Mal in die vordersten Reihen, kein einziges Mal bis in die Kampfmannschaft der
Legia
geschafft hatte und seit einem Straßenbahnunfall, nach dem er vergeblich zur Schwarzen Madonna von Tschenstochau gepilgert war, auch noch hinkte. Der Prediger tauchte jedenfalls nur vor hohen kirchlichen Feiertagen im Stadion auf – aber hatte nicht auch Jesus die Händler und Geldwechsler vor dem Pessachfest aus dem Tempel gejagt und vielleicht erst damit jene Wut provoziert, die ihn schließlich nach Golgatha, ans Kreuz, bringen sollte?
Möglicherweise war die Geschichte dieses schreienden Mannes, der sich einst als Flügelstürmer der zweiten oder dritten Reserve einer umjubelten Mannschaft große und vergebliche Hoffnungen gemacht hatte, nur eine passende Anekdote, erfunden an einem passenden Ort. Aber ein Unglück, das ihm vielleicht seine Lebensfreude, gewiß aber seine Beweglichkeit genommen hatte, mußte irgendwann in seiner Vergangenheit tatsächlich geschehen sein, denn der Mann erklomm geborstene, von Grasbüscheln durchsprengte Betonstufen nur mit Mühe, während er im Höhersteigen, keuchend, hinkend, weiter und weiter die Toten, die Helden und die Opfer der Grausamkeit beschwor, dabei als einzige Hoffnung aber nicht den Himmel predigte, sondern das Spiel als einen Abglanz des Paradieses.
Ein Fotograf
Ich sah einen Straßenarbeiter, der bis zur Brust in einem Graben vor einem lichtblauen Haus in der dominikanischen Stadt San Felipe de Puerto Plata stand. Der Mann arbeitete mit Spitzhacke und Schaufel offensichtlich daran, diesen Graben zu verlängern, um das Haus mit seinen weißen Fenstern und Veranden mit einem offenen Kanal zu verbinden, der entlang der Straße verlief. Kopfgroße, am Rand des Grabens ausgelegte Steine sollten Passanten vor der Fallgrube warnen.
Der Mann stützte sich eben auf den Schaufelstiel, um Atem zu holen, als sich drei Fußgänger, zwei Männer und eine Frau, in angeregtem Gespräch näherten. Die Frau zeigte schon aus der Ferne auf das lichtblaue Haus, als habe sie eine Entdeckung gemacht. Als sie den Graben erreichte und einen Augenblick ratlos davorstand, legte der Arbeiter die Schaufel zur Seite und überbrückte das Loch in der Erde mit einer Verschalungsplanke.
Keiner der drei bedankte sich für diesen Dienst. Die Frau ließ die Männer über den schmalen Steg vorangehen – einer von ihnen trug eine mit Packpapier umwickelte Tafel – und bedeutete ihnen, vor der Eingangstür des Hauses Aufstellung zu nehmen. Dann beugte sie sich zu dem
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