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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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bloße Schatten des Todes, Raum geschaffen. Die Verdächtige saß, wo sie saß. Aber der Platz neben ihr blieb leer.

Unter Verdacht
    Ich sah eine Plakatwand an der unter Luftspiegelungen verschwimmenden Straße nach Klipplaat am Rand der südafrikanischen Suurberge. Neben Werbungen für Geländewagen, Speiseeis, Limonaden und Klimaanlagen trug diese von einem Sturm oder einem Lastwagen leicht nach hinten gebogene Wand, die einen Rastplatz vom schwachen Verkehr der Fernstraße abschirmte, auch ein Plakat, das vor bissigen Pavianen warnte: Auf dem Parkplatz sollten keine Lebensmittel offen getragen werden. Die Gier der Affen sei leicht zu wecken.
    Im Schatten dieser schiefen Wand lag ein staubiger Hund mit weit von sich gestreckten Pfoten, als wäre er über der Bewachung so vieler in grellen Farben prangender Werbebotschaften und Empfehlungen vor Langeweile eingeschlafen. Und schlafend mußte ihm wohl auch jener zornige Maler entgangen sein, der über alle Werbungen, Warnungen und Vorschriften in fast mannshohen Buchstaben und mit tiefroter, zerrinnender Farbe eine jede andere Botschaft überschreiende Forderung gepinselt hatte: HANG EM . Hängt ihn.
    Ich war an diesem Tag als Passagier eines Überlandbusses unterwegs von Port Elizabeth am Indischen Ozean in die Steppen- und Wüstenlandschaften der Großen Karoo und wußte – wie wohl die meisten Buspassagiere –, wem in diesen Riesenlettern der Strang an den Hals gewünscht wurde. Ein Sergeant der südafrikanischen Polizei, jung, weiß, sein Ruf makellos, hatte auf einem Parkplatz an der Fernstraße nach Uitenhage in der Eastern Cape Province, einem Parkplatz ähnlich diesem hier, nur ohne Wasser, ohne Kiosk, Toiletten und Tankstelle, mit einer halbautomatischen Militärwaffe, es war eine Kalaschnikow, seine Frau und seine beiden Kinder erschossen. Das zumindest war die Version, die das Gericht in Uitenhage für die wahrscheinlichste gehalten hatte, als es über den Sergeant die Untersuchungshaft verhängte.
    Um Himmelswillen nein, nein!, hatte dagegen der Verdächtige nach seiner Verhaftung geschworen, nein, an diesem furchtbarsten Tag seines Lebens sei er mit seiner Familie unterwegs in die Berge gewesen und habe vor dem Aufbruch wegen einer Eifersüchtelei unter den Kindern vergessen vollzutanken. Kurz vor dieser Raststelle, dem Tatort, sei der Tank leergelaufen und er habe seine Liebsten im Schatten zurückgelassen und sich mit einem ebenfalls leeren Reservekanister in der Hoffnung auf den Weg gemacht, nicht die ganze Strecke bis zur nächsten Tankstelle zu Fuß zurücklegen zu müssen. Vielleicht würde ihn ja einer der wenigen Autofahrer auf dieser Strecke bis dahin mitnehmen. Das sei auch geschehen, der mitleidige Fahrer könne das bezeugen. Und bei seiner Rückkehr … bei seiner Rückkehr habe er seine Frau und seine Kinder aus unzähligen Wunden blutend im Schatten gefunden, alle tot, alle erschossen.
    Die Bluttat auf einem Parkplatz an einer Fernstraße, der weiße Sergeant, seine Grausamkeit oder sein tragisches Schicksal, seine Schuld oder Unschuld waren in den Tagen nach seiner Verhaftung immer wieder Gegenstand leidenschaftlicher Auseinandersetzungen gewesen, die in Zeitungen und im lokalen Fernsehen geführt wurden, an Eßtischen oder Bushaltestellen, nicht nur in der Region von Uitenhage, sondern weit darüber hinaus in der ganzen Provinz Eastern Cape. Ich hatte in Port Elizabeth einen offenen Lastwagen gesehen, auf dessen Bordwände in einer Art Endlosband die Dutzende Male wiederholte Forderung gesprüht worden war, den Mörder zu lynchen.
    Südafrika hatte erst zwei Jahre zuvor die Rassentrennung ausnahmslos und in allen Bereichen der Gesellschaft, zumindest auf dem Papier der neuen Verfassung, abgeschafft und mit Nelson Rolihlahla Mandela aus dem Volk der Xhosa den ersten Schwarzen in seiner Geschichte zum Präsidenten gewählt. Aber von den vielen Hoffnungen, die sich in den Jahrzehnten eines oft aussichtslos erschienenen Kampfes um die Gleichheit aller Bewohner des Landes gestaut hatten, waren die meisten immer noch unerfüllt: An den Schauplätzen schwerer und schwerster Arbeit plagten sich nach wie vor fast ausschließlich Schwarze, das Elend war noch immer und vor allem in schwarzen Townships zu Hause, und selbst Krankheiten wie die Immunschwäche Aids waren nach wie vor schwarz geblieben – der helle, schöne kleine Rest des Lebens dagegen nach wie vor weiß. Während aus den unteren Etagen der Gesellschaft, den Werkstätten,

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