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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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untersucht wurde, bevor die leeren Sitzreihen abgeschritten und von einem hellhaarigen, fast blonden Schäferhund beschnüffelt wurden. Die Uniformierten führten den Hund an einer kurzen Leine dann auch an uns vorüber, die wir wie Soldaten hinter unseren Gepäckstücken Aufstellung genommen hatten. Der Befehl dazu war in drei Sprachen aus zwei an der plakatierten Todesdrohung angebrachten Lautsprechern gekommen. Aber der Hund zog scheinbar gleichgültig an uns und unserer Habe vorüber.
    Als ihn die Grenzpolizisten bis ans Ende unserer Reihe geführt hatten, kamen, wie nach einer genau festgelegten Dramaturgie, drei verschleierte Frauen in bodenlangen, schwarz wehenden Gewändern aus dem Zollhaus auf uns zu. Und während die Polizisten mit ihrem Hund wie zum Schutz oder zur Kontrolle der Frauen am Ende der Gepäckzeile stehenblieben, wiesen die Verschleierten scheinbar wahllos auf diese und jene Tasche, auf diesen und jenen Rucksack oder Koffer: Öffnen! Auspacken!
    So begann sich allmählich parallel zur ersten eine zweite, vielfältigere und kleinteiligere Zeile zu bilden, die an einen Flohmarkt erinnerte. Kamen Seifendosen, Toilettentaschen, Plastiksäcke oder Schuhbeutel zum Vorschein, mußten auch diese und alle Behälter wie russische Puppen geöffnet und nochmals geöffnet werden, bis auch der Kern, das Innerste, nicht mehr Teilbare offenlag. Bei allem sprachen die Verschleierten aber kein Wort, sondern machten nur Zeichen: zeigten, schrieben Schleifen und Kreise in die Luft, hoben die Handflächen, winkten ab.
    Waren während des gesamten Verfahrens immer wieder Worte zwischen den Reisenden gewechselt worden, beschwichtigende, beruhigende, manchmal sogar scherzhafte Floskeln, so wurde es plötzlich still, vollkommen still, als eine der Verschleierten nach den beiden Uniformierten rief und ihnen eine geöffnete, mit kunstvollem Schnitzwerk verzierte Schatulle entgegenhielt, der sie ein mit Plastik und Klebeband umwickeltes Stück, etwa in der Größe einer Seife, entnahm. Als der Hund das Ding beschnupperte, schüttelte er sich, als sei ihm etwas Scharfes, Ätzendes in die Nase gestiegen.
    Alle Blicke waren nun der Besitzerin der Schatulle zugewandt, einer jungen Thai, die offensichtlich
Bahasa Melayu
, die Landessprache, verstand, denn sie beantwortete, wenn auch stockend, die seltsam leise gestellten Fragen der beiden Uniformierten. Auch die Verschleierten umstanden nun die Verdächtige, stellten aber keine Fragen und blickten schweigend auf sie herab, als sie, einem Befehl gehorchend, den auf dem nassen Asphalt verstreuten Inhalt ihrer Tasche auf den Knien einsammelte.
    Dann faßte sie einer der Uniformierten am Arm, der zweite nahm ihre Tasche. So wurde sie zum Zollhaus geführt, abgeführt. Die Verschleierten folgten mit der Schatulle und ließen uns in unserer Reihe stehend zurück. Erst als der Fahrer und sein Gehilfe im Zollhaus nachfragten und mit der Erlaubnis zurückkamen, das Gepäck wieder aufladen zu dürfen, wagten wir, uns zu bewegen. In den Bus zu steigen blieb uns aber verboten. Wir müßten warten, sagte der Fahrer, warten, bis die Erlaubnis zur Weiterfahrt erteilt werde. Eine Stunde verging. Dann zwang uns ein heftiger Regenschauer unter das Flugdach der Grenzstation.
    Zunächst erkannte keiner von uns die zierliche Gestalt, die, gefolgt von einer der Verschleierten, aus der Tür des Zollhauses trat, während der Regen wie ein Steinhagel auf das Flugdach schlug. Sie trug einen himmelblauen Regenmantel mit hochgezogener Kapuze, verließ den Schutz des Flugdaches und ging durch den Wolkenbruch auf unseren vor der Henkerschlinge wartenden Bus zu. Es war die Verdächtige. Was immer ihre Schatulle enthielt, hatte offensichtlich kein Gesetz verletzt. Wir dürften nun, bedeutete die Verschleierte unserem Fahrer, bevor sie wieder im Zollhaus verschwand, die Reise nach Kuala Lumpur fortsetzen.
    Die Frau im blauen Regenmantel war schließlich die einzige, die den Bus trocken bestieg. Unsere Mäntel lagen im Gepäck verstaut auf dem Dach. Triefend nahmen wir unsere Plätze wieder ein.
    Meiner Erinnerung nach war der Bus, der nun im Getrommel des Regens scheinbar lautlos aus der Grenzstation rollte, bei der Abfahrt im thailändischen Hat Yai bis auf den letzten Platz besetzt gewesen. Es hatte sogar Streit gegeben, als ein australisches Paar in der stickigen Enge nicht nebeneinander zu sitzen kam. Aber nun, als die Henkerschlinge hinter jagenden Wasserschleiern verschwand, hatte der Schrecken, der

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