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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Lagerhallen, Baugruben, Großküchen und anderen Stätten, an denen das tägliche Leben in Bewegung gehalten wurde, manchmal und immer noch die Gesänge der Xhosa und der Zulu, der Sotho, der Tswana, Ndebele, Herero oder Swasi und so vieler anderer Stämme des Landes zu hören waren, wurde es nach oben hin immer stiller – und heller. Und schließlich weiß.
    Und in dieser Zeit der Einsicht in die quälende Langsamkeit der Verbesserung der Welt drang die Nachricht vom dreifachen Mord an der Fernstraße, drang vor allem aber die empörende Anschuldigung eines weißen Verdächtigen, der zu seiner Verteidigung vortrug: Nicht er, nicht er!, sondern eine der vielen schwarzen Banden, die in der Gegend von Uitenhage wie im Rest Südafrikas für Raubmorde, Vergewaltigungen und zahllose andere Verbrechen verantwortlich waren, hätten wohl auch diesen Mord verübt. Schwarze. Einmal mehr sollten Schwarze das Schlimmste auf sich nehmen.
    Ich hatte Mühe, dem lautstarken Streitgespräch eines Paares zu folgen, das mit den anderen Passagieren aus dem Bus gestiegen und dann neben mir vor der Plakatwand stehengeblieben war, aber die beiden schienen einiges von dem zu wiederholen, was in der ganzen Provinz zum Fall des weißen Sergeant schon oft gesagt und oft geschrieben worden war. Das Paar gehörte zu jenen Bewohnern des Landes, denen nach den Gesetzen der überwundenen Rassentrennung als
Coloured
 – nicht weiß, nicht schwarz – gegenüber der großen Mehrheit der Schwarzen einige bescheidene Privilegien zugestanden worden wären, und beschwor in seinem Streit vor der Plakatwand nun auch annähernd schwarze und annähernd weiße Positionen.
    Ganz richtig, hängen, aufhängen sollte man dieses Schwein, sagte die Frau, sie trug einen safrangelben Sari, ein Mensch, ein Gesetzeshüter!, der seine eigenen Kinder und die Mutter dieser Kinder töte, verdiene es nicht, auch nur den Morgen nach seiner Tat zu erleben. Und sein Kadaver sollte an einem Baum oder hoch an einem Baukran hängen, bis die Vögel jeden verfluchten Finger dieser Mörderhände mit ihren Schnäbeln zerhackt und die Knochen über den Steinen und Dornen der Großen Karoo verstreut hätten.
    Der Mann oder Freund oder Bruder oder bloß zufällige Sitznachbar der Frau im Sari nickte zu ihrer Verfluchung, versuchte sich dann aber den weißen Sergeant als Unschuldigen vorzustellen – möglich, immerhin möglich sei seine Unschuld doch. Was für ein entsetzliches Schicksal, mit einem Kanister voll Benzin auf einen Parkplatz zurückzukehren, um einen Sonntagsausflug endlich fortzusetzen, und dort seine Familie in ihrem Blut zu finden. Gab es etwas Schrecklicheres, als auf diese Weise von seinen Kindern, seiner Frau Abschied nehmen und dann auch noch ertragen zu müssen, als ihr Mörder beschuldigt zu werden? Und von den Menschen statt Beistand, Trost oder Anteilnahme nur noch Abscheu und Haß erwarten zu können und auf diese Weise allein, ganz allein bleiben zu müssen in einem verfinsterten Leben. Wenn er an der Stelle dieses Sergeant wäre, sagte der Mann irgendwann nicht nur zur Frau im Sari, sondern auch in meine Richtung, schuldig oder unschuldig, würde er sich den Tod in jedem Fall wünschen, entweder als Sühne für seine Tat oder als Erlösung von der Unerträglichkeit seines Verlustes und der Unerträglichkeit der Anklage, der Mörder seiner Liebsten zu sein.
    Ich habe vergessen, auf welche Weise der Chauffeur des Busses das Signal zur Weiterfahrt gab, erinnere mich aber daran, wie eilig alle Passagiere plötzlich vom Kiosk des Rastplatzes, von einem Trinkwasserbrunnen, vor dem sie Schlange gestanden hatten, oder von den Toiletten, auf deren Türen noch ein Abdruck längst entfernter Schilder
Nur für Weiße
zu sehen war, wieder auf ihre Plätze zurückkehrten. Auch das Paar wandte sich weiter redend, weiter streitend zum Gehen.
    Allein der Mann, der, wie ich geglaubt hatte, eben noch als Fürsprecher des Mordverdächtigen aus Uitenhage aufgetreten war, schien durch seine eigenen Worte plötzlich seltsam aufgebracht, als ob schon die bloße Vorstellung dessen, was auf einem Parkplatz ähnlich diesem hier geschehen war, ausreichte, um sich gegen eine Welt, in der doch endlich alles hätte gut werden sollen und die nun so etwas zuließ, zu empören. Vielleicht war es auch der jähe, ohnmächtige Zorn, keinen unbezweifelbar Schuldigen verurteilen zu können, und vielleicht erschien ihm mit einemmal sogar der schlafende Hund im Schatten der Plakatwand als

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