Atme nicht
immer noch krank war. Sie hatte sich von mir entfernt. Als wir beide hier gewesen waren, hatten wir auf gleicher Stufe gestanden, aber jetzt konnte ich nicht mehr mit ihr mithalten. Wenn sie sagte: »Weil ich dich und Jake gernhabe«, hieß das nicht das, was es bedeutet hätte, wenn wir gesunde, normale Menschen gewesen wären.
»Warum, glaubst du, bin ich heute hierhergekommen?« Ihre Finger strichen über mein Handgelenk.
»Aus Barmherzigkeit?«
Sie presste die Lippen zusammen, bis fast nichts mehr von ihnen zu sehen war. »Wie kannst du nur so ein Idiot sein? Barmherzigkeit? Nun hör aber auf.«
»Du bist draußen und ich nicht.« Ihre Finger verbrannten mir förmlich die Haut. Ich verstand einfach nicht, warum sie es nicht raffte, es sei denn, sie wollte es nicht raffen. »Du hast jetzt ein richtiges Leben.« Ein Leben, in dem sie ständig mit Typen zusammenkam, die keine psychiatrischen Patienten waren, Typen, die nicht von Selbstmordgedanken besessen waren und sich noch nie bei einer Gruppensitzung lächerlich gemacht hatten.
»Hör auf, so zu tun, als stünde ich auf einem Podest. Außerdem wirst du ja auch bald entlassen. Weißt du das denn nicht?«
Sie ließ mein Handgelenk los, und ich verspürte den Drang, sie meinerseits zu packen, mich an sie zu klammern, als könnte nur sie mich am Leben halten. Doch ich ließ sie gehen. Und als sie mich eine Woche später anrief, konnte ich ihr mitteilen, dass sie recht gehabt hatte. Auch ich sollte entlassen werden.
Die Sache war die, dass sich bei Vals Berührung etwas in mir geregt hatte, das monatelang tot gewesen war. In puncto Mädchen und Sex war ich völlig ausgebrannt und hatte aufgehört, von solchen Dingen zu träumen oder darauf zu hoffen. Im Grunde hatte ich vergessen, dass es so was gab. Ich hatte vergessen, wie es war, solche Wünsche zu haben, wie es sich anfühlte, den Blick über den Körper eines Mädchens wandern zu lassen und das Bedürfnis zu haben, diesen Körper auch anzufassen. Ich war wie erstarrt gewesen, bis Vals Finger dieses Verlangen schlagartig wieder zum Leben erweckt hatten.
6
Nach unserer Rückkehr aus Seaton wollte Nicki sofort zum Wasserfall. Ich konnte sie gut verstehen, denn das war genau das, was ich auch gewollt hätte, wenn ich gerade bei dem Versuch gescheitert wäre, in einem muffigen Raum voller Porzellanfigürchen mit meinem toten Vater Verbindung aufzunehmen.
Ich hatte nicht bedacht, wie lang der Weg von ihrem Haus zum Wasserfall war. Und da die ganze Strecke auch noch bergauf ging, waren wir beide ziemlich außer Atem, als wir ankamen. Ein paar kleine Kinder schmissen gerade Steine ins Wasser, rannten aber weg, als sie uns sahen.
Ich zog mein T-Shirt aus. Nicki legte ihres ebenfalls ab und rannte ins Wasser. Ihr dunkelblauer BH stach deutlich von ihrer blassen Haut ab. Ich beobachtete sie, bis sie hinter dem Wasservorhang verschwand. Ich fragte mich, was es zu bedeuten hatte, dass sie sich vor meinen Augen das T-Shirt ausgezogen hatte. Hieß das, dass es ihr egal war, wenn ich sie so sah, weil ich ein Niemand war? Oder hatte die ganze Geschichte mit Andrea sie so aufgewühlt, dass sie nicht mehr wusste, was sie tat?
Eine Minute später kam sie triefnass und nach Luft schnappend unter dem Wasserfall hervor. »Du hättest mal sehen sollen, wie das im letzten Frühjahr hier war«, sagte sie. »Da hat einen das Wasser umgerissen, wenn man blöd genug war, sich runterzustellen.«
Das wusste ich, ich war nämlich blöd genug gewesen.
Ohne eine Antwort zu geben, watete ich in den Teich und trat unter den Wasserfall, damit er alle Erinnerungen an die Porzellanfigürchen, Andreas nichtssagendes Lächeln, die klappernde Klimaanlage und überhaupt an das ganze heutige Desaster wegspülte. Das Wasser prasselte auf mich nieder und ich hielt es länger als je zuvor darunter aus. Nicki hatte recht. Durch die trockene Augusthitze hatte das Wasser etwas von seiner Kraft verloren. Trotzdem dröhnten mir von dem Getöse immer noch die Ohren, als ich zum Ufer zurückging.
»Ich wollte dir gerade nachkommen.« Nicki zitterte und hatte eine Gänsehaut. Ich gab ihr mein T-Shirt, damit sie sich abtrocknen konnte, und zog es dann, nass, wie es war, an. Nachdem sie sich ihr trockenes Shirt übergestreift hatte, wrang sie ihr Haar aus.
»Bist du okay?«, fragte ich.
»Nein.«
Wir gingen zu unserem Haus. Im Souterrain befand sich ein Wandschrank voller Sportkleidung, die meiner Mutter gehörte. Ich gab Nicki eine Trainingshose,
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