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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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nicht mehr so weich war wie am Anfang, sondern sich ganz rau anfühlte, so als ob man jede Faser und jeden Faden spüren konnte.
    Dieses raue Gefühl riss mich aus dem eigenartigen Dämmerzustand, in dem ich mich befunden hatte. Ich machte die Tüte zu und schob sie ins Regal zurück. Es ärgerte mich, dass ich wieder einmal der Versuchung nachgegeben hatte und jetzt gegen Schuldgefühle ankämpfen musste, die mir wie ein Betonklotz auf der Seele lagen.

8
    Am Abend kehrte mein Vater nach Hause zurück. Er war Vertreter, aber keiner von der Sorte, die mit einem Köfferchen von Haus zu Haus zieht. Er verkaufte Industrieequipment an Fabriken. Sein Reisepass enthielt Stempel aus aller Welt. Als kleiner Junge hatte ich mir auch so einen Pass gebastelt, mit Stempeln aus Ländern, die es gar nicht gab. Erst in der zweiten Klasse wurde mir klar, dass nicht jedes Kind auf so eine Idee kam.
    Mein Vater versprach mir ständig, mich mal auf eine seiner Reisen mitzunehmen, doch immer wenn ich ihn auf eine bestimmte Tour festnageln wollte, sagte er: »Du, mein Terminkalender ist randvoll. Ich hätte überhaupt keine Zeit für dich.« Ich erwiderte dann stets, ich könne doch auch auf eigene Faust losziehen – ich hatte da so meine Vorstellungen, wie ich frei und ungebunden durch die Straßen einer fremden Stadt streifen würde, wo man eine Sprache sprach, die ich nicht verstand –, doch von dieser Idee hielten meine Eltern leider gar nichts.
    Als wir uns zum Essen hinsetzten, sah meine Mutter mich mit ihrem üblichen zittrigen Lächeln an. Offenbar hatte sie mir vergeben, dass ich die Vase kaputt gemacht hatte. Sie zerschnitt ihren Fisch in gleiche Teile und achtete strikt darauf, dass er nicht mit den Karotten und den grünen Bohnen in Berührung kam.
    »Heute Abend wird im Fernsehen ein Match übertragen«, sagte Dad zu mir. »Wollen wir uns das ansehen?«
    »Okay.« Ich wusste nie, ob er diese Vater-Sohn-Nummern abzog, weil er sich dazu verpflichtet fühlte oder weil er Lust dazu hatte, aber im Grunde war mir das egal, da ich sowieso nichts anderes vorhatte.
    Mom ging nach oben, sie fand Baseball total langweilig und wollte sich lieber einen Film ansehen. Wir zwei machten es uns auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich. Das Gerede von Baseballkommentatoren ist unglaublich entspannend. Man hat immer den Eindruck, als gäbe es für sie nichts Wichtigeres im Leben als das Spiel, das sie gerade verfolgen. Nicht dass ich auf jedes Wort geachtet hätte. Ich mochte es einfach, ihrem Redefluss zuzuhören, all den statistischen Angaben, Zahlen und Namen. Und dabei gelang es mir, alles andere aus meinem Kopf zu verbannen – Nicki, das Medium, Jake, meine Mom.
    »Deine Mutter hat erwähnt, dass du wieder joggen willst«, bemerkte Dad während einer Werbepause.
    »Oh … ja … das hab ich gesagt.«
    Er zögerte, bevor er weitersprach. Seit einem Jahr schien er alles, was ich sagte, immer erst abzuwägen und zu analysieren. Oder vielleicht wägte er auch seine eigenen Worte ab, um nichts von sich zu geben, was mich aus dem Gleichgewicht und wieder in die Klapse bringen könnte. »Denk dran, dass unten das Laufband steht. Das kannst du jederzeit benutzen.«
    »Ich weiß. Aber ich will draußen trainieren.« Das Laufband war zur Sache meiner Mutter geworden. Ich wollte nicht mehr in einem geschlossenen Raum laufen, wo man nur die Wände um sich herum sah. Seit meiner Entlassung aus der Klinik hatte ich mich abgeschottet gefühlt und wie in Watte gepackt. Jetzt merkte ich, dass ich das dringende Bedürfnis hatte, aus dieser Ummauerung auszubrechen.
    »Sehr schön«, erwiderte Dad eine Spur zu begeistert. Ich fragte mich, ob meine Eltern es wohl je schaffen würden, wieder unverkrampft mit mir umzugehen.
    Bevor ich ins Bett ging, kramte ich in meinem Wandschrank herum, bis ich die Laufschuhe fand, die Dad mir Anfang des Sommers gekauft hatte. Im Juni hatte ich ihm erzählt, dass ich wieder joggen wollte, worauf er mit mir nach Seaton gefahren war, um diese Schuhe zu besorgen. »Schön, dass du dich wieder für was interessierst«, hatte er gesagt, während ich die Schuhe anprobierte, und mich dabei angestrahlt, als hätte ich gerade eine Olympiamedaille nach Hause gebracht. Doch ich hatte die Schuhe kein einziges Mal getragen, sondern sie in meinem Wandschrank verstaut. Allein der Kauf war ein ausreichend großer Schritt gewesen.
    Ich zwang mich, nicht zu der braunen Tüte im obersten Regal hochzublicken, und konzentrierte mich auf die

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