Atme nicht
Schuhe. Nachdem ich sie dem Karton entnommen und aus dem knisternden Seidenpapier gewickelt hatte, stellte ich sie neben mein Bett auf den Fußboden. Sie rochen nach Gummi und neuem Plastik. Sie rochen nach Neuanfang.
Val war online und beantwortete eine Mail, die ich ihr vorhin geschickt hatte. »Sie haben geläutet, Sir?«
»Ja«, antwortete ich. »Ich hab einen beschissenen Tag hinter mir. Ich hab beschissene Sachen zu anderen gesagt & weiß noch nicht mal genau, warum.«
»Zu wem denn?«
»Erinnerst du dich an das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe? Sie wollte die ganze Garagengeschichte hören.«
»Und? Hast du sie ihr erzählt?«
»Ja.«
»Ihr müsst euch schon ziemlich nahestehn, wenn du dich darauf eingelassen hast.«
»Das lag daran, dass sie mir eine Menge von ihrem Vater erzählt hat. Und da hab ich ihr eben auch meine Geschichte erzählt.« Ich hielt kurz inne, um dann hinzuzusetzen: »Wenn man es recht bedenkt, bin ich damals in der Garage eigentlich nicht sehr weit gegangen. Erinnerst du dich noch, dass Alex immer sagte, es könne gar nicht als echter Versuch gelten? Dass ich nicht versucht hätte, mich umzubringen, sondern versucht hätte, es zu versuchen.«
»Hältst du das für ’nen Wettbewerb oder was? Nach dem Motto: Wer hat ernsthaftere Absichten, sich um die Ecke zu bringen? Und der Gewinner endet dann in einer Kiste, ja? Toller Erfolg!«
»Weiß auch nicht.«
Sendepause. Der Cursor blinkte mich an.
»Du fehlst mir«, schrieb Val schließlich. »Solche Gespräche fehlen mir.«
»Mir auch.«
»Ich hab ein Lied geschrieben. Soll ich es dir schicken?«
»Klar.«
»Aber du musst es dir gleich anhören, okay?«
»Okay.«
Sie schickte mir den Link und ich spielte das Lied ab. Es war ein Instrumental für Klavier und Gitarre, in das an ganz unerwarteten Stellen eine Flöte einfiel. Das Lied war wie Val selbst, spiegelte ihre düstere und ihre humorvolle Seite wider, ihre Offenheit für alles, ihre Angewohnheit, das Leben über sich hinweg- und durch sich hindurchfließen zu lassen. »WOW«, schrieb ich.
»Gefällt’s dir?«
»Es ist unglaublich gut. Welches Instrument hast du gespielt?«
»Klavier und Flöte. Mein Bruder die Gitarre.«
Wir unterhielten uns noch eine Weile über das Lied – wie lange sie gebraucht hatte, es zu schreiben, wie sie es aufgezeichnet hatte, was ihr Bruder dazu meinte. Ich wollte mich einfach nicht von ihr trennen und hatte eine Heidenangst vor dem Moment, da unser Gespräch zu Ende sein würde.
Damals im Patterson Hospital dachte ich manchmal – vorausgesetzt, ich war nicht gerade damit beschäftigt, meine eigene Vernichtung zu planen –, dass Val mich möglicherweise mochte. Allerdings hatte sich in der Klinik nie etwas zwischen uns abgespielt, sah man einmal von dem Funken ab, der übergesprungen war, als sie mir nach ihrem Konzert die Finger ums Handgelenk gelegt hatte. Jetzt, wo wir wieder draußen waren, spielte ich manchmal mit dem Gedanken, ihr zu sagen, wie die Sache für mich stand und wie sehr ich sie mochte. Vielleicht hätte ich es schon längst gewagt, wenn sie nicht so weit weg gewohnt hätte.
Aber was, wenn sie kein Interesse hatte? Das würde unsere ganze Beziehung kaputt machen und ich stünde mit nichts da. Deshalb verabschiedete ich mich auch heute, ohne ihr etwas zu sagen.
Meine schlimmste Befürchtung dabei war, dass Val sich so verhalten könnte wie damals Amy Trillis. Obwohl Val ja völlig anders war als Amy.
Ich hatte Nicki erzählt, meine Probleme hätten angefangen, nachdem wir aus West Seaton weggezogen waren, aber das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Von Zeit zu Zeit hatte ich dieses Glasscheibengefühl schon vorher gehabt, wenn auch nie so stark. Jedes Mal, wenn es sich einstellte, versuchte ich, mich abzulenken, indem ich joggte oder Baseball spielte oder sonst was machte, bis das Gefühl wieder verschwand.
Und dann war an meiner alten Schule auch noch diese Sache mit Amy Trillis gewesen.
Wenn ich so zurückdenke, bin ich mir nicht mal mehr sicher, warum ich Amy überhaupt mochte. Jedenfalls war ich schwer in sie verknallt, dachte nur noch an sie und bekam Herzklopfen, sobald sie in meiner Nähe war, obwohl ich nie ein Wort mit ihr wechselte. Jeder an der Schule kannte sie. Sie war damals im zweiten Jahr, war stellvertretende Klassensprecherin, ein Star des Fußballteams der Mädchen und eine der Redakteurinnen der Schülerwebsite. Sie schien immer genau zu wissen, was sie sein wollte und wer sie
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