Atme nicht
schlechtes Gewissen habe.«
»Kommen Sie in unsere Welt, wo es Wunder wie dieses gibt.« Ich schickte ihm das Bild einer Aubergine, deren Züchter behauptete, sie sehe aus wie Albert Einstein. Nach der Auseinandersetzung mit Nicki und Mom war es eine Wohltat, sich mit Gemüse zu beschäftigen, das angeblich einem berühmten Wissenschaftler ähnelte. Halbwegs konnte ich verstehen, warum Jake sein Zimmer nie verlassen wollte.
»Weißt du, wenn es bei uns im Garten solche Auberginen geben würde, würde ich ja rausgehen, aber da gibt’s nur ödes GRAS, das gemäht werden muss«, schrieb Jake. »Warum unser Prachtkerl das nicht machen kann, ist mir ein Rätsel. Wahrscheinlich bräuchte er das Gras bloß scharf anzusehen, damit es sich von selber mäht.«
»Hey, wenn dein Bruder keine Einstein-Aubergine hat, ist er gar nicht so ein Prachtkerl.«
Daraufhin verstummte Jake so lange, dass ich dachte, er sei vielleicht eingedöst. Gerade als ich nachhaken wollte, schrieb er: »Wie ist es denn so für dich in der Schule?«
»Geht so«, antwortete ich, wobei mir einfiel, dass ich mich immer wie ein Eisberg durch die Gänge der Schule schob und die Leute einen großen Bogen um mich machten. »Nicht allzu schlimm.«
»Für mich ist es schlimm.«
»Wieso das?«
Schweigen. Nur der Cursor blinkte. Dann kam Jakes Antwort.
»Weil JEDER weiß, dass ich im Patterson Hospital war.«
»Na und? Das ist bei mir genauso.«
»Und wie benehmen sich die andern?«
»Die meisten halten sich einfach von mir fern. Als hätte ich eine ansteckende Krankheit.«
»Ich wünschte, von mir würden sie sich auch fernhalten.«
Bevor ich etwas erwidern konnte, schrieb er: »Mom brüllt gerade von unten, ich soll den Rechner ausschalten. Bis dann.«
Ich saß eine Weile da und überlegte, warum Jake mich nach der Schule gefragt hatte und was er mit »schlimm« meinte. Ich konnte mir zig Varianten von »schlimm« vorstellen, zig Möglichkeiten, wie in der Schule etwas schieflaufen konnte. Vielleicht hätte man uns allen in der Klinik erst mal einen Kurs zum Wiedereintritt ins normale Leben geben sollen, bevor man uns entließ. Nicht dass ich gewusst hätte, was man uns hätte beibringen können. Vielleicht war es gar nicht möglich, dieser merkwürdigen Situation zu entgehen, dem ganzen Getuschel, den aufdringlichen Blicken, dem spöttischen Grinsen – man musste da einfach durch, ob man wollte oder nicht.
In dem Moment kam eine Nachricht von Nicki rein. Toll. Genau das, was ich brauchte.
Doch obwohl sie die Letzte war, mit der ich mich jetzt auseinandersetzen wollte, konnte ich es mir nicht verkneifen, ihre Mail zu lesen.
»nur für den fall dass du es wissen möchtest ich bin NICHT trocken nach hause gekommen. stell dir mal vor das medium hat angerufen & gesagt mein dad hätte ihr eine botschaft für mich zukommen lassen. ich hab ihr natürlich nicht geglaubt wollte aber wissen was es war. ich bin ja so blöd. es war irgendein gesülze von wegen man müsse das beste aus seinem leben machen blablabla. so was kann sich jeder ausdenken. du warst auch nicht viel besser als wir bei ihr waren & du versucht hast dich in meinen dad zu versetzen aber zumindest hast du es gut gemeint.«
Ich ließ ihre Mail unbeantwortet und stellte mir vor, wie sie klatschnass nach Hause kam und das Medium zurückrief, wahrscheinlich noch bevor sie sich abgetrocknet hatte. Wie sie den Atem anhielt, weil es ja sein konnte, dass Andrea ihr etwas Wichtiges mitzuteilen hatte – und dann die Enttäuschung, als ihr klar wurde, dass es abermals falscher Alarm war.
Und trotzdem konnte ich mich nicht dazu durchringen, ihr zu antworten. Ich konnte es nicht, weil zwischen uns eine Mauer entstanden war.
»Ryan anscheinend bist du immer noch sauer auf mich aber das ist mir egal. von mir aus kannst du so sauer sein wie du willst. ist mir doch schnurz.«
Auch diese Mail ließ ich unbeantwortet.
»übrigens bin ich froh dass du dich nicht umgebracht hast. und jetzt kannst du wieder sauer auf mich sein. ich bin jetzt auch ziemlich sauer auf dich.«
Und diese ebenfalls.
Ich öffnete den Wandschrank, holte das Päckchen oben vom Regal und machte die knisternde Papiertüte auf. Unterschwellig war der Drang, den Pullover anzufassen, immer da, aber jetzt beherrschte er mich derart, dass ich erst, wenn ich es hinter mir hatte, imstande sein würde, mich zu entspannen oder an etwas anderes zu denken.
Ich steckte die Hand in die Tüte und strich über den Pullover, der längst
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