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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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Mein Haar war noch vom Wasserfall nass. Nachdem Mom die Klimaanlage angestellt hatte, trockneten mir allmählich Augen und Mund aus. Trotz des kalten Zugs, der mir gegen Kinn und Hals blies, wurde mir immer wärmer. Die Luft roch modrig und nach abgestandenem Zigarettenrauch, obwohl meines Wissens in diesem Auto noch nie jemand geraucht hatte. Ich drehte die Düse von meinem Gesicht weg.
    »Jake wird sich freuen, dich zu sehen«, sagte meine Mutter.
    »Hm«, erwiderte ich. Ich überlegte, ob Val wohl da sein würde, wobei ich nicht wusste, ob sie das mit Jake überhaupt schon mitgekriegt hatte. Ich hätte sie anrufen sollen, doch bei dem Gedanken, mit ihr zu sprechen, krampfte sich mir der Magen zusammen. Sofort musste ich wieder daran denken, dass sie vor mir zurückgewichen war, dass sie gesagt hatte: »Vielleicht mag ich dich dafür nicht genug.« Ich sah vor mir, wie ich ihr die Finger ums Handgelenk gelegt hatte, spürte ihre Haut, vergegenwärtigte mir die Nähe ihres Gesichts, als sie den Kopf abgewandt hatte … Verdammt. Ich wollte nicht an sie denken. Nicht jetzt. Ich schloss die Augen und versuchte, mir den Wasserfall, den Steinbruch oder sonst was vorzustellen. Jake. Ich war auf dem Weg zu Jake. Ich musste mich am Riemen reißen, um für Jake da zu sein.
    Das Erste, was mir beim Betreten der Klinik auffiel, war der Geruch. Selbst mit geschlossenen Augen hätte ich sofort gewusst, wo ich mich befand. Es roch nach Schweiß und Putzmitteln, verbrauchter Luft und Essen, das vor Stunden zubereitet worden war. Außerdem stank es nach Angst. Als Zweites nahm ich das Piepen und Summen der Türsicherungen wahr, das dumpfe Zufallen der Türen und das bläuliche Neonlicht in den Gängen. Es kam mir vor, als sei ich vor hundert Jahren hier gewesen, und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, als sei es nur ein paar Tage her.
    Mir schoss durch den Kopf, dass mein altes Zimmer nicht mehr mir gehörte und dass jetzt jemand anders dort untergebracht war. Und obwohl ich in keiner Weise das Bedürfnis hatte, in die Klinik zurückzukehren, wurde mir bei diesem Gedanken eiskalt. Das ergab natürlich überhaupt keinen Sinn, aber andererseits rechnete ich schon lange nicht mehr damit, dass mein Leben einen Sinn ergab.
    Sie ließen mich nicht zu Jake. Ich hatte völlig vergessen, dass es hier die Regel gab, dass man in den ersten Tagen keinen Besuch empfangen durfte.
    »Könnten Sie ihm dann sagen, dass ich hier war?«, fragte ich Marybeth, die am Empfang saß. Meine Mutter schnaubte vor Empörung. Sie hatte bereits gegen besagte Regelung protestiert und darauf hingewiesen, welchen weiten Weg wir zurückgelegt hatten, doch all das beeindruckte Marybeth nicht im Geringsten.
    »Wenn du möchtest, kannst du ihm ja ein paar Zeilen schreiben«, schlug Marybeth mir vor.
    »Das ist eine gute Idee«, sagte Mom. »Gleich um die Ecke ist ein Laden, wo es Glückwunschkarten und so was gibt, Ryan. Warum sehen wir uns da nicht mal um?«
    Wir gingen in den Laden, doch ich hatte keine Ahnung, was für eine Art Karte ich kaufen sollte. Beste Genesungswünsche? Kopf hoch? Sorry, dass du wieder in der Klapse bist? Schließlich entschied ich mich für eine Karte mit einer furzenden Eidechse, weil mich die an die beknackten Sachen erinnerte, die wir uns immer zumailten. Meine Mutter kaufte eine überdimensionale Glitzerkarte mit Rosen, was ich irgendwie merkwürdig fand, da sie Jake kaum kannte. Aber vermutlich kannte sie seine Mutter – wie gut, entzog sich meiner Kenntnis, obwohl ich den Verdacht hatte, dass sie öfter miteinander sprachen, als mir bewusst war. Allmählich wurde mir klar, wie viel ich nicht wusste. Wie viel hinter den Kulissen vor sich ging, ohne dass ich etwas davon merkte.
    Nachdem wir die Karten am Empfang abgegeben hatten, schickte ich Val eine SMS, um ihr das mit Jake mitzuteilen. Nach einer Weile stellte ich mein Handy ab, da ich so angestrengt auf das Klingeln lauschte, dass mir die Ohren wehtaten.
    Mom ging mit mir zum Lunch in einen Diner, wo sie ihr Essen wie üblich auf dem Teller arrangierte. Ich quetschte Ketchup aus einer schmierigen Plastikflasche, tunkte eine Fritte in den roten Klecks und gab mir alle Mühe, die geometrischen Exerzitien meiner Mutter zu ignorieren. Während sie ihren Obstsalat aß, berührten ihre Lippen nicht ein einziges Mal die Gabel; bei jedem Bissen bleckte sie die Zähne.
    »Ich bin froh, dass Dr. Briggs bald wieder da ist«, sagte sie.
    »Wieso? Brauchst du Hilfe, um deinen verrückten Sohn

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