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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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unter Kontrolle zu halten?«
    Das sagte ich einfach so dahin. Val, Jake oder Nicki hätten dabei noch nicht mal mit der Wimper gezuckt. Doch meine Mutter fuhr zusammen, als hätte ich ihr mit meiner sauren Gurke ins Auge gestochen.
    »Sorry«, sagte ich.
    Sie legte ihre Gabel hin. »Vielleicht ist dir nicht ganz klar, Ryan, dass das mit deiner Krankheit nicht leicht für mich war.«
    »Hab ich nie angenommen.«
    Sie sah mich starr an. Ich pulte am Rand meines Sandwichs herum.
    »Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie dein Vater und ich uns gefühlt haben, als du so krank warst?«
    Ich dachte daran, wie ihr Mund immer zitterte, wenn sie mich ansah, dachte an die lautstarken Auseinandersetzungen am Telefon, als sie mit der Versicherungsgesellschaft über die Deckung meiner Behandlungskosten gesprochen hatte, dachte an den Seufzer, den sie jedes Mal unwillkürlich ausstieß, wenn sie mich in Dr. Briggs’ Praxis ablieferte. Und ich dachte an das Gesicht, das mein Vater gemacht hatte, als er mich in der Garage erwischte, sowie an die Falte, die zwischen seinen Augen entstand, wenn er meinen Mund inspizierte, um sich zu vergewissern, dass ich meine Pille geschluckt hatte.
    Einmal hatte ich zufällig einen Streit meiner Eltern mitgehört. Meine Mutter hatte geschrien: »Natürlich wusste ich nicht, dass er in der Garage ist!«, worauf mein Vater erwidert hatte: »Ich gebe dir ja keine Schuld …« Um den Rest nicht hören zu müssen, hatte ich mir Kopfhörer in die Ohren gestöpselt und Musik angestellt.
    »Weißt du überhaupt«, sagte meine Mutter jetzt, »wie das war, als wir dich in dieser Klinik lassen und ohne dich nach Hause fahren mussten? Dass wir uns ständig gefragt haben, was wir falsch gemacht hatten?«
    »Es hat nichts mit euch zu tun«, sagte ich in Richtung meines Tellers, auf dem der Rest meines Schinkensandwichs lag.
    »Was?«
    »Ich meine, es ist nicht eure Schuld.« Ich hob den Kopf und sah sie an. Ihr Gesicht war voller roter Flecken.
    »Weißt du, was es heißt, einen Sohn zu haben, der sich umbringen will? Nein? Dann werde ich’s dir verraten.« Die Worte sprudelten ihr aus dem Mund, als hätten sie ein Eigenleben, als könnte sie sie nicht länger zurückhalten. Die Leute am Nebentisch sahen sich nach uns um, doch meine Mutter, die ausnahmsweise mal nicht darauf achtete, ob jemand in der Nähe war und alles mitbekam, redete einfach weiter. »Das ist das Schlimmste, was du dir vorstellen kannst. Du kannst dich nicht auf deine Arbeit konzentrieren. Du kannst nicht schlafen.«
    Ich zermatschte eine kalte Fritte im Ketchup und wünschte inständig, sie würde den Mund halten. Wie ein eisiger Nebel stiegen Schuldgefühle in mir auf. Ich war noch nicht so weit, mir all das anzuhören. Vor allem jetzt nicht, da Jake wieder in der Klinik war und Val mir einen Korb gegeben hatte und Dr. Briggs noch im Urlaub war. Trotzdem hörte ich zu, weil ich wusste, dass ich mir das selbst eingebrockt hatte.
    »Am liebsten möchtest du ihn beim Genick packen und durchschütteln, damit er dir verspricht, gesund zu werden. Und dann hasst du dich, weil du diesen Wunsch hattest. Du möchtest ihn zurechtbiegen, kannst es aber nicht. Und was noch viel schlimmer ist: Auch die sogenannten Experten können dir nicht garantieren, dass sie es schaffen, ihn wieder zurechtzubiegen.«
    Auf dem Tisch hatte jemand Salz verstreut. Ich presste meine Finger in die weißen Körnchen und grübelte über den Ausdruck »wieder zurechtbiegen« nach. Das Kältegefühl in mir nahm zu.
    »Du weinst die ganze Nacht, und wenn du ihn am nächsten Tag besuchst, weigert er sich, mit dir zu reden.« Ihre Stimme wurde immer schriller. »Und wenn er was sagt, dann nur, dass er sterben möchte. Du fragst ihn, warum, worauf er sich einfach auf dem Bett zusammenrollt und die Hände gegen die Ohren presst.«
    Die Salzkristalle bohrten sich in meine Haut. Ich gab mir alle Mühe, ihr weiterhin zuzuhören, weil ich ihr das schuldig war. Doch in meinen Ohren setzte ein eigenartiges Rauschen ein, das ihre Stimme dämpfte.
    »Du durchsuchst sein Zimmer und entdeckst, dass er genug Schmerzmittel gehortet hat, um einen Elefanten zu töten. Wenn du versuchst, mit ihm zu reden, kratzt er sich lediglich den Kopf oder die Arme. Du versicherst ihm, dass du immer für ihn da bist, aber er sieht dich noch nicht einmal an.«
    Auch jetzt konnte ich sie nicht ansehen. Ich drückte noch fester auf die pikenden Salzkörnchen. Meine Atemgeräusche hallten in meinem Kopf

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