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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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ich einfach … als ich wieder in dieser Klinik war …«
    Mom stützte den Ellbogen auf den Tisch und bedeckte die Stirn mit der Hand, sodass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Ich hatte wieder mal alles vermasselt. Und obwohl mein Inneres zu Eis erstarrt war, spürte ich, wie heiße Schuldgefühle in mir aufstiegen. Ich konnte nur vermuten, um wie viele Jahre ich das Leben meiner Mutter bereits verkürzt hatte. Alles, was ich jetzt sagte, würde es nur noch schlimmer machen.
    Mom hob den Kopf und versuchte, ein paar Papierservietten aus dem silbernen Spender zu ziehen, der jedoch so vollgestopft war, dass die Servietten zerrissen. Sie fummelte und kratzte am zerfetzten Papier herum, bis ich auf den Hebel drückte, damit sie eine ganze Lage herausziehen konnte.
    Nachdem sie sich erneut den Mund abgewischt hatte, sah sie mich mit müdem Blick an. »Kannst du mir vergeben?«
    » Dir vergeben?«, entgegnete ich überrascht und auch bestürzt, denn darum ging es nicht.
    Überhaupt nicht.
    Während wir zum Auto zurückgingen, legte sie den Arm um mich, um mich unbeholfen an sich zu drücken – eine Geste, die ich nicht erwiderte. Die Glasscheibe war inzwischen so dick, dass ich kaum noch etwas hörte und lautlos den Bürgersteig entlangzugehen schien. Wie aus weiter Ferne drang das Gehupe von Autos an mein Ohr. Die Stimme meiner Mutter konnte ich überhaupt nicht mehr hören.
    Den Rest des Tages gingen meine Mutter und ich uns aus dem Weg.
    Ich joggte durch den Wald, bis ich zum Steinbruch kam, wo ich mich keuchend gegen die verrosteten Überreste des Maschendrahtzauns lehnte, ohne zu wissen, ob sie mein Gewicht aushalten würden. Verzweifelt versuchte ich, alle Gedanken aus meinem Kopf zu verscheuchen, denn ob ich nun an Val, Jake oder meine Eltern dachte – jedes Mal hatte ich das Gefühl, gegen eine scharfe Kante zu prallen, die mich aufzuschlitzen drohte.
    Als ich am Nachmittag in meinem Wandschrank nach einem Sweatshirt suchte, warf ich einen Blick nach oben und sah ein Stück pinkfarbenen Pullover aus der Einkaufstüte lugen. Toll. Genau das hatte mir noch gefehlt. Ich spielte mit dem Gedanken, die Tüte samt Inhalt zum Steinbruch mitzunehmen und in den Abgrund zu werfen, aber damit würde ich das Ganze nicht wirklich aus der Welt schaffen. Ich langte nach oben, schob den Pullover wieder in die Tüte und machte diese fest zu.
    Am Abend ging ich früh zu Bett. Noch bevor ich eingeschlafen war, klingelte mein Handy: Val.
    »Ja«, sagte ich, mit dem Handy am Ohr im Dunkeln liegend.
    »Du durftest also nicht mit Jake sprechen? Weißt du, wie es ihm geht?«
    »Nein. Wir durften nur Karten für ihn abgeben.«
    »Gott, ich hatte befürchtet, dass er so was anstellen würde. Erst gestern …«
    »Ich weiß. Ich war dabei.«
    Sie schwieg eine Weile. Ich presste mir das Handy noch fester ans Ohr.
    »Und wie steht es mit dir, Ryan? Bist du wirklich okay?«
    »Ja.«
    »Bist du sicher? Mir ist klar, dass das gestern irgendwie … ungünstig gelaufen ist. Ich will nicht, dass du dich verletzt fühlst. Besonders jetzt nicht.«
    Ich schloss die Augen, weil ich sie auf diese Weise so deutlich vor mir sah, dass ich sie hätte berühren können …
    Aber nur fast.
    Da war es wieder, dieses Fast, diese nicht zu überbrückende Kluft, die alles, was ich wollte, unerreichbar machte. »Na, hör mal, Val«, sagte ich mit rauer Stimme, »was denkst du denn? Dass ich mich deinetwegen umbringen würde?«
    »Nein, ich …«
    »Mach dir Sorgen um Jake, nicht um mich.«
    »Ich mache mir Sorgen um euch beide. Mir Sorgen zu machen ist so meine Art, weißt du das nicht mehr?« Ihre Stimme war ganz brüchig geworden, was mich an ihre schlimmsten Tage in der Klinik erinnerte und daran, dass auch sie ihre Schwachpunkte hatte.
    »Doch, doch«, erwiderte ich, während mein Zorn verrauchte. »Wie geht es dir so?«
    »Gut, glaube ich. Manchmal hab ich eine Heidenangst, und manchmal bin ich wegen Jake so fertig, dass ich ihm am liebsten ein bisschen Hoffnung in den Schädel rammen würde, aber im Großen und Ganzen … bin ich okay. Ich komponiere, das hilft.«
    Obwohl wir nicht mehr viel sagten, blieben wir beide am Telefon – so wie wir früher in der Klinik immer zusammengesessen hatten, im Aufenthaltsraum, im Garten oder auf dem hässlichen Sofa im Gang. Wir hatten es immer geschafft, uns gegenseitig Kraft zu geben, und ich konnte es nicht ertragen, dass sie das, was wir füreinander empfanden, nicht vertiefen wollte, dass ihr das, was

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