Atme nicht
zwangsläufig, dass er Probleme hat.«
»Wenn er nicht ganz glücklich war, hättest du uns sofort darüber informieren müssen! Weißt du denn nicht, wie gefährlich es ist, wenn jemand mal depressiv war …«
»Nicht ganz glücklich? « Ich trank einen großen Schluck schwarzen Kaffee und verbrannte mir die Zunge, was aber irgendwie fast angenehm war. »Niemand ist ständig glücklich. Wenn ich jedes Mal, wenn jemand nicht ganz glücklich ist, zu dir rennen würde …«
Abrupt verstummte ich, da ihr die Augen derart aus dem Kopf quollen, dass es mir Angst einjagte – ein Gefühl, das durch ihr hexenhaft abstehendes Haar noch verstärkt wurde.
»Was? Was sagst du da? Willst du damit andeuten, dass du auch nicht glücklich bist?«
»Nein, ich …«
Sie knallte ihren Becher auf den Küchentresen. »Was soll ich bloß mit dir machen? Du hast jeden Grund, glücklich zu sein, alles, wofür zu leben …«
»Ich weiß.« Ich wusste es wirklich, und es tat mir leid, mehr, als sie wahrscheinlich für möglich gehalten hätte.
Schwer atmend packte sie ihren Becher beim Henkel. Ich trank einen weiteren Schluck Kaffee, weil mir nichts Besseres einfiel.
»Das ist alles meine Schuld«, fuhr sie mit leiser, gepresster Stimme fort. »Ich hätte viel früher dafür sorgen müssen, dass du Hilfe bekommst. Schon damals, als die Sache mit Frank rauskam.«
Als dieser Name fiel, bekam ich eine Gänsehaut. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass sie ihn erwähnte. »Hör auf«, sagte ich.
»Er hat mich so lange hinters Licht geführt, und als ich dann Bescheid wusste …«
»Mom …«
»Es heißt, dass man nie über sexuellen Missbrauch hinwegkommt.«
Ich zuckte so zusammen, dass ich Kaffee auf den Fußboden verschüttete, gewöhnlich ein schweres Vergehen in der sterilen Küche meiner Mutter. Heute schien sie es jedoch überhaupt nicht zu bemerken. »Das war kein Missbrauch.«
Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe.
»Ich meine, ich weiß, es war seltsam, aber es war ja nicht so, dass …« Die Hand, in der ich den Becher hielt, wurde feucht.
Sie schüttelte mit verkniffenem Mund den Kopf. Dann verließ sie die Küche.
Sexueller Missbrauch. Meine Güte. Ich wusste, dass sie das auch Dr. Briggs erzählt hatte, und bei meinem ersten Besuch bei der Ärztin hatte ich mit ihr gleich darüber gesprochen, damit die Sache vom Tisch war und sie ihr nicht die Bedeutung zumaß, die meine Mutter ihr zuzumessen schien.
Ich presste meinen feuchten Rücken gegen die Kühlschranktür. Ich wusste, warum Mom solch ein Aufhebens darum gemacht hatte, warum sie Dr. Briggs die Geschichte vor die Füße geworfen hatte wie eine Katze, die eine tote Maus anschleppt. Sie meinte nämlich, das erkläre, warum ich in der Klinik gelandet war. Das musste der Grund sein, warum ich so war, wie ich war. In ihren Augen war Frank das Schlimmste, was mir je passiert ist.
Mein Großvater heiratete drei Mal. Mit seiner ersten Frau setzte er Frank in die Welt, mit seiner zweiten meine Mutter, und ich glaube, mit seiner dritten Frau hatte er mehrere Kinder. Da er jedoch mit seiner Familie in Kalifornien lebte, sahen wir uns nie. Jedenfalls war Frank mein Halbonkel. Als ich klein war, kam er manchmal zu Besuch.
An einem Sommernachmittag, als meine Eltern im Garten eine Grillparty veranstalteten, bat Frank mich, mit ihm ins Schlafzimmer zu kommen. Obwohl ich nicht wusste, was das sollte, ging ich mit, da ich mich langweilte und nichts Besseres zu tun hatte. Zuvor war ich schon so lange im Pool geschwommen, bis meine Finger runzlig wie Rosinen aussahen.
»Setz dich«, sagte Frank und zeigte aufs Bett. Ich gehorchte.
Er stellte sich vor mich, machte seine Hose auf und ließ sie fallen. Darunter trug er nichts. Ich nahm an, er wolle sich eine Badehose anziehen, denn mein Vater und einige Jungs aus der Nachbarschaft, die jetzt unten im Garten rumtobten, hatten sich ebenfalls hier oben umgezogen. Deshalb hielt ich das Ganze für keine große Sache. Frank blieb jedoch vor mir stehen und beobachtete mich, als warte er auf eine Reaktion. Ich starrte ihn lediglich an und wurde allmählich ungeduldig. Dann zog er die Hose wieder hoch, machte sie zu, holte einen zusammengefalteten Geldschein aus der Tasche und gab ihn mir.
»Das darfst du niemandem erzählen«, flüsterte er.
»Okay«, erwiderte ich und dachte, er meine das mit dem Geld, weil meine Mutter etwas dagegen hatte, dass Verwandte mir Geld zusteckten. Sie war der Ansicht, mein Taschengeld reiche
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