Atme - wenn du kannst!
ein Patient, der Vorfreude auf eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt heuchelte. Andy nahm ihre Hand, und danach fühlte Emily sich wenigstens etwas besser. Seine Gegenwart machte die Gefahr für sie viel erträglicher. Plötzlich musste sie wieder an das Stalking durch ihren Ex denken. Am schlimmsten war für Emily gewesen, dass sie sich so allein gefühlt hatte. Gewiss, ihre Mom hatte zu ihr gehalten. Aber ansonsten war es, als wäre sie den bösen Absichten von Jim Meadows schutzlos ausgeliefert gewesen.
Jetzt war alles anders. Kendall war ein erstklassiger Seemann, daran hatte Emily nicht den geringsten Zweifel. Er würde sie schon aus diesem Schlamassel retten und in Sicherheit bringen. Oder?
Doch ein Blick durch die Bullaugen hinaus auf das tosende Sturmchaos machte jede Hoffnung sofort wieder zunichte. Man konnte kaum noch zwischen Wasser und Himmel unterscheiden. Wellen krachten mit einer solchen Gewalt gegen die Bullaugen, dass Emily um das Glas fürchtete. Die Fortuna war eine hochseetüchtige Jacht, so viel stand fest. Aber würde sie auch einem solch urgewaltigen Sturm gewachsen sein?
Die Motorjacht legte sich so weit auf die Seite, dass Emily überzeugt war, sie würden kentern. Doch nach einigen Minuten, die ihr wie eine halbe Ewigkeit vorkamen, richtete sich das Schiff wieder auf. Nun neigte es sich allerdings zur anderen Seite. Die Wellenberge, die sich draußen auftürmten, waren so hoch wie Wolkenkratzer. Emilys Magen rebellierte. Sie glaubte schon, dass ihr schlecht würde. Doch dann geschah etwas, das sie ihr eigenes Unwohlsein schlagartig vergessen ließ.
Plötzlich erblickte sie nämlich draußen vor dem Bullauge einen dunklen Schatten. Im ersten Moment glaubte Emily, es wäre der Klabautermann, der Fliegende Holländer oder eine sonstige Gruselgestalt. Das hätte einfach zu dieser unheimlichen Sturmatmosphäre gepasst, obwohl Emily nicht an Geister oder sonstige übersinnliche Wesen glaubte.
Doch die Wirklichkeit war noch viel furchtbarer als jede Fantasie.
Der Mann, der draußen in das tosende Wasser stürzte, war der alte Sam!
Für einen Moment sah Emily in sein von Entsetzen verzerrtes Gesicht. Er wusste oder ahnte, dass ihm der sichere Tod bevorstand. Und es gab nichts, was sie für ihn tun konnten. Emily hatte keine Ahnung von Navigation. Aber sie ahnte, dass man bei diesem Wetter keinesfalls ein Rettungsboot zu Wasser lassen konnte. Sam hatte nur seine Rettungsweste. Aber würde die ihm inmitten eines rasenden Hurrikans etwas nützen?
Emily wusste es nicht. Und im nächsten Augenblick war sie nur noch um ihr eigenes Leben besorgt. Es gab nämlich einen entsetzlichen Krach, etwas splitterte lautstark. Außerdem knallte Metall gegen Metall, jedenfalls hörte es sich so an. Und die Kabine füllte sich mit Wasser. Vor den Bullaugen war es so finster, dass man kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Und diesmal blieb die Fortuna in ihrer Schräglage. Sie richtete sich nicht wieder auf.
„Raus hier!“, rief jemand. War es Lee oder Kyle? „Wir sitzen in der Falle!“
Die Fortuna sank, das war jedem an Bord bewusst. Das Wasser strömte immer heftiger in das Innere der Motorjacht. Wenn man hinauswollte, musste man gegen die kalten salzigen Massen anarbeiten. Emily wusste selbst nicht, wie sie das schaffte. Die Todesangst und der Stress verliehen ihr ungeahnte Kräfte. Dabei schaffte sie es sogar noch, die völlig verängstigte Melanie hinter sich herzuziehen. Melanie war starr vor Furcht, das spürte Emily genau. Sie wäre vermutlich ohne fremde Hilfe in der Kabine geblieben und mit der Motorjacht untergegangen.
Das Achterdeck war bereits völlig überspült, auf die Kommandobrücke krachte soeben eine riesige Sturzsee. Und das höllische Tosen und Brausen des Sturms wollte einfach nicht aufhören. Melanie rief etwas, das Emily bei dem Lärm nicht verstehen konnte. Es war, als würde Melanie von einer unsichtbaren Riesenfaust gepackt. Die Hände der beiden Frauen lösten sich voneinander. Melanie verschwand inmitten einer großen dunklen Welle. Der Schiffsrumpf neigte sich noch mehr zur Seite, obwohl das kaum möglich erschien. Emily bekam einen Schlag gegen den Hinterkopf. Danach wurde es schwarz um sie herum.
6. KAPITEL
Das Salzwasser brannte wie Feuer in Emilys Augen.
Sie riss den Mund auf, wollte instinktiv um Hilfe rufen. Doch ihr klatschte sofort ein Schwall Wasser ins Gesicht. Emily hustete und rang nach Luft. Durch die Rettungsweste wurde ihr Kopf zwar über Wasser
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