Atme - wenn du kannst!
gehalten, aber wenn eine der Riesenwellen sie erwischte, musste sie trotzdem den Atem anhalten. Zu groß war die Gefahr, dass Wasser in ihre Lungen gelangte.
Emily wusste nicht, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Mehr als ein paar Minuten konnten es nicht gewesen sein, sonst hätte sie diesen Zustand gewiss nicht überlebt. Nicht inmitten dieses schrecklichen Hurrikans. Emily befand sich im Zentrum einer tosenden, düsteren Hölle aus Sturm und Wasser. Für einen Moment glaubte sie, den Rumpf der Fortuna zu sehen – oder das, was von der Motorjacht noch übrig war. Das weiße Heck ragte steil nach oben, mehr als zwei Drittel des Schiffs waren bereits gesunken. Natürlich war es nicht gelungen, die Rettungsboote zu Wasser zu lassen. Als die Fortuna havariert war, hatte jeder an Bord nur an sein eigenes Leben gedacht. Aber … wo waren die anderen überhaupt?
Emilys Herz setzte einen Schlag aus, als sie sich an das Entsetzen auf Sams Gesicht erinnerte. Ob der alte Matrose noch lebte? Sie wünschte es ihm sehr. Aber was war aus den übrigen Leuten an Bord geworden? War Emily in den wenigen Minuten ihrer Ohnmacht so weit von ihnen abgetrieben? Oder war sie länger weggetreten gewesen, als sie angenommen hatte? Sie hatte jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Sie befand sich in der karibischen See, und um sie herum tobte ein Wirbelsturm. Das war momentan alles, was sie wusste.
Ihre Sorge galt vor allem Andy. Ob es ihm gut ging? Sie vermisste ihn entsetzlich. Gewiss hätte Emily ihre miserable Lage besser ertragen, wenn er bei ihr gewesen wäre. Die Vorstellung, dass er tot sein könnte, war einfach zu viel für sie. Sie weigerte sich einfach, daran zu glauben. Andy hatte schließlich eine Rettungsweste angelegt, genau wie sie selbst. So einfach konnte man nicht ertrinken, wenn man dieses Kunststoffteil trug. Sie selbst lebte ja auch noch, obwohl sie sogar zwischenzeitlich das Bewusstsein verloren hatte. Vielleicht ging es Andy ja genauso. Wenn er nun irgendwo ohnmächtig herumtrieb und dringend Hilfe brauchte?
Emily versuchte, sich auf ihren eigenen Überlebenskampf zu konzentrieren. Wenn sie starb, konnte sie niemandem mehr helfen. Sie besann sich auf ihre Stärke. Hatte sie nicht auch den monatelangen Psychoterror durch ihren Ex überlebt? Ich kann auch diesen Sturm überstehen, sagte sie sich. Irgendwann musste auch der schlimmste Hurrikan einmal vorbei sein.
Die Rettungsweste sorgte dafür, dass Emily den Kopf über Wasser halten konnte. Ansonsten war es ziemlich sinnlos, sich schwimmend in eine bestimmte Richtung bewegen zu wollen. Schließlich wusste sie nicht, wohin sie sich wenden sollte. Möglicherweise schwamm sie sogar von den anderen Überlebenden weg, ohne es zu wollen. Und wenn sie nun als Einzige den Untergang der Motorjacht überstanden hatte?
Emily zerbrach sich darüber nicht den Kopf. Solange sie keine Beweise für den Tod ihrer Gefährten hatte, wollte sie nicht vom Schlimmsten ausgehen. Auf jeden Fall musste sie vermeiden, genauso hysterisch zu werden wie Melanie. Trotz ihrer Verzweiflung und ihrer Angst schaffte es Emily irgendwie, einen halbwegs klaren Kopf zu bewahren.
Deshalb bemerkte sie auch, dass der Hurrikan allmählich nachließ. Das heißt, eigentlich raste und wütete er mit unverminderter Wucht weiter. Aber er bewegte sich von ihr fort. In der Schule hatte Emily gelernt, dass die tropischen Wirbelstürme der Karibik mit einer unglaublichen Geschwindigkeit über Wasser und Land hinwegzogen und eine Schneise der Verwüstung hinterließen. Die Wellenberge und Wellentäler, zwischen denen Emily wie eine Nussschale hin und her geschleudert wurde, flachten ganz allmählich ab. Zuerst glaubte sie noch, dass sie sich die Verbesserung nur einbilden würde. Aber ganz allmählich wurde die Hoffnung zur Gewissheit. Sogar der düstere Himmel hellte sich etwas auf. Am Horizont durchbrachen bereits Sonnenstrahlen die finsteren Wolkenbänke. Bisher hatte Emily kaum die Hand vor Augen sehen können. Aber nun schaute sie sich genauer um.
Und plötzlich entdeckte sie einen schwarzen Punkt weit vor ihr.
Vor Aufregung begann ihr Herz schneller zu schlagen. War das ein anderer Schiffbrüchiger – oder nur ein Wrackteil? Am liebsten hätte sie gerufen, aber sie biss sich auf die Unterlippe. Ihre Kehle schmerzte von dem vielen Salzwasser, das sie geschluckt hatte. Außerdem wollte Emily sich keine unnötigen Hoffnungen machen. Falls dort nur eine Planke oder ein Stück Plastik trieb, würde ihre
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