Atme - wenn du kannst!
Enttäuschung grenzenlos sein. Daran hatte sie keinen Zweifel. Trotzdem versuchte sie natürlich, näher an das Objekt heranzukommen. Inzwischen hatte sich der Seegang so weit beruhigt, dass sogar Schwimmen wieder möglich war. Allerdings wurde Emily dabei von ihrer Rettungsweste gebremst, die sperrig und nicht gerade stromlinienförmig war.
Doch je näher sie herankam, desto stärker wurde die Hoffnung zur Gewissheit.
Vor ihr trieb ein Mensch.
Ob er noch lebte? Auf jeden Fall schien es ein Schiffbrüchiger der Fortuna zu sein, denn er hatte dieselbe grell orangefarbene Rettungsweste an wie Emily. Nun bemerkte er sie ebenfalls und winkte.
Es war Kapitän Kendall!
Er schwamm auf sie zu, und sie kam ihm ebenfalls entgegen. Emily war überglücklich, nicht mehr allein zu sein. Noch lieber wäre es ihr natürlich gewesen, wenn sie Andy getroffen hätte. Aber vielleicht wusste der Kapitän ja, was aus ihm und den anderen Passagieren geworden war.
„Emily! Gott sei Dank, du lebst!“
Als die beiden im Wasser Schwimmenden einander erreicht hatten, zog Kendall Emily zitternd an sich. Sie hatte nichts dagegen, denn sie konnte in diesem Moment etwas menschliche Wärme dringend gebrauchen. Kendall ließ sie überhaupt nicht mehr los.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin. Ich hatte dich gerade erst kennengelernt, und dann sah es so aus, als ob ich dich wieder verloren hätte – und zwar für immer. Aber das ist zum Glück nicht geschehen, Emily.“
Sie runzelte die Stirn. Natürlich war sie auch sehr erfreut, den Kapitän hier in dieser unendlich erscheinenden Wasserwüste getroffen zu haben. Aber einen solchen Gefühlsausbruch von ihm hatte Emily eigentlich nicht erwartet. Ob er doch in sie verliebt war? Offenbar stand ihr die Skepsis im Gesicht geschrieben. Kendall lächelte ihr zu und strich ihr eine nasse Haarsträhne aus der Stirn.
„Du musst mich für verrückt halten, Emily. Also hat dir deine Mom wirklich nichts gesagt, oder?“
„Meine Mom? Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Kapitän.“
„Lass doch den Kapitän weg, Emily. Ich bin … Deine Mom und ich, also, ich bin dein Vater.“
Zuerst begriff Emily das Stammeln des Kapitäns gar nicht richtig. Doch dann dämmerte ihr allmählich die Bedeutung seiner Worte. Gab es nicht sogar eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen ihnen? Wohl kaum, denn Emily war eigentlich ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.
Ihre Mutter – nun begriff Emily erst, warum sie ihr ausgerechnet einen Kurs in Kendalls Tauchschule geschenkt hatte. Das war natürlich kein Zufall. Auf Kendalls Gesicht machten sich Zweifel breit. So, als bereute er bereits, sich seiner Tochter offenbart zu haben.
„Du siehst nicht gerade begeistert aus, Emily. Sag doch etwas, bitte.“
„Was erwartest du von mir?“ Emilys Stimme klang rau, und das lag nicht nur an dem Salzwasser in ihrer Kehle. „Du hast mich zwanzig Jahre lang nicht gesehen, und nun bist du plötzlich da. Oder wolltest du mich gar nicht treffen? Hat Mom dir die Begegnung mit deiner Tochter aufgezwungen?“
„Nein, so war es nicht. Das musst du mir glauben. Ich wollte dich schon vor ein paar Jahren kennenlernen. Aber da bist du ausgerastet, wie mir deine Mutter erzählt hat.“
Emily schwieg verlegen. Voller Scham erinnerte sie sich an diesen Abend. Sie war damals vierzehn Jahre alt, mitten in der Pubertät und eine absolute Oberzicke gewesen. Jedenfalls kam es ihr rückblickend so vor. Emilys Mom hatte vorsichtig versucht, ihr ein Treffen mit ihrem Vater nahezulegen. Doch Emily war damals beinahe durchgedreht. Sie hatte noch nicht einmal den Namen ihres Dads erfahren wollen und ihrer Mutter eine Riesenszene gemacht. Seit diesem Tag hatte ihre Mom nie wieder versucht, mit Emily über ihren Vater zu reden.
„Ich war damals ein ziemlich schräger Teenager, okay? Aber was ist in den zwanzig Jahren seit meiner Geburt geschehen? Hast du nicht schon früher den Kontakt zu uns gesucht? Warum waren wir eigentlich nie eine richtige Familie? Hast du dich nicht mit Mom verstanden?“
„Ich war ein Dreckskerl“, gestand Kendall. „Brenda, also deine Mutter, und ich haben uns auf dem College kennengelernt. Wir waren beide noch sehr jung. Als Brenda schwanger wurde, bekam ich Panik. Ich dachte, mein Leben wäre vorbei.“
„Das ist ja nicht gerade ein Kompliment für mich“, gab Emily wütend zurück. „Dein Leben war vorbei, weil meines begonnen hatte?“
„Wie gesagt, so dachte ich damals. Ich
Weitere Kostenlose Bücher