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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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Ärzten und Schwestern umgeben war, und wartete, bis die Visite beendet war, bis alles besprochen war, Paules Blutwerte, die Genesung, der mögliche Entlassungstermin. Kein Wort von der Abtreibung.
    »Es war auch mein Kind«, sagte ich, nachdem der Gesundheitstrupp das Krankenzimmer verlassen hatte und wir wieder allein waren. »Ich habe es gewollt.« Mit aller Kraft beherrschte ich das Zittern der Wut in meiner Stimme.
    »Aber es ist mein Bauch«, sagte sie, und ich fühlte mich zurückversetzt in die Zeit der kämpferischen Frauenbewegung, wie ich sie bei den Müttern von Schulkameraden, bei manchen Kommilitoninnen, ja sogar bei den Freundinnen meiner Großmutter und bei dieser selbst erlebt hatte. Ihr Bauch, ihr Leben, ihre Mutterschaft, die sie annehmen oder verweigern konnten, ja mussten, in einer Zeit, als Abtreibung ein Verbrechen und Mutterschaft ein Mittel war, die Frau in Abhängigkeit zu halten. Aber heute. Für uns. Für mich galt das doch nicht. Anscheinend doch. Paule bestand darauf, was konnte ich dem entgegenhalten? Und dann: War ich sicher, dass es mein Kind war? Hatte ich unter diesen Umständen überhaupt ein Mitspracherecht, ein Recht mich einzumischen und Paule, nur weil ich das Kind wollte, an mich zu ketten und uns beide an das Kind?
    »Dazu fällt mir nichts mehr ein. Ich dachte, das hätten wir hinter uns«, sagte ich.
    »Lass mich allein, jetzt«, sagte sie.
    »Genau das habe ich vor«, erwiderte ich und wandte mich zum Gehen. Sie sah mich mit einem Blick an, der voller Kälte war, Enttäuschung, ja Verachtung, wie mir schien. Was war nun wieder? Ich wurde nicht klug aus ihr. Damals nicht und später noch weniger. Grußlos ging ich und warf mich zu Hause in die Arbeit. Ich schottete mich ab, und wie immer, wenn ich nicht mehr weiterwusste, wenn an anderer Stelle gar nichts mehr ging, kam ich mit den Comics und Zeichnungen rasch voran.
    Der Mann ohne Gesicht lebt in der Wüste von Nevada. An der Stelle, an der andere eine Nase, einen Mund, Wangen und einigermaßen symmetrisch angeordnete Züge haben, wuchern bei ihm Hautlappen und Ausstülpungen, deren größte von der rechten Stirnseite bis zum Kiefer reicht. Seine Eltern haben ihn nach der Geburt verlassen. Wenn der Mann ohne Gesicht sich den Schweiß abwischt, hebt er den Hautlappen an und lässt ihn anschließend zurückfallen. Es klatscht, als hätte er sich selbst eine Ohrfeige verpasst. Der kleine Mann, ich nannte ihn Gene, hatte nichts gelernt außer Rauchen und Klavierspielen. Als Kind begann er auf einem Keyboard zu üben, spielte Melodien aus dem Radio nach und bekam später ein Klavier, dann ein Stipendium an der Juilliard. Gene konnte nicht sehen, nicht riechen, nur mühsam essen. Wenn er auf die Straße ging, trug er immer einen kleinen Filzhut mit Schleier, hinter dem er sein Gesicht versteckte. Er weigerte sich öffentlich aufzutreten, sah seine Zukunft in einer Laufbahn als Studiomusiker, bis er sich eines Tages in eine ältere Studentin aus der Holzbläserklasse verliebte, die in irgendeiner abgründigen Weise eine erotisch zu nennende Beziehung zu ihrem Fagott hatte. Das wars. Ich beschloss, damit zu beginnen, wie Gene der Fagottspielerin zum ersten Mal begegnete, und hielt meine Überlegungen in einem Marvelscript fest, fertigte einige Skizzen des kleinen Mannes an. Mit Zigarette, mit Hütchen, das von Hautlappen verlegte Gesicht, die kleinen Hände mit den zierlichen Fingern. Der mit vielen Kissen gepolsterte Klavierhocker, das alte Keyboard im Keller des Waisenhauses, in dem er aufwuchs.
    Dann überwältigte mich die Traurigkeit über mein verlorenes Kind. Vier Tage und Nächte lag ich auf dem Bett und versuchte mich zu fassen; überzeugte mich von allem, was ein Leben ohne Kind an Vorteilen brachte. Freiheit, Unabhängigkeit, die Möglichkeit zu reisen oder wegzuziehen, auch wenn ich die Gelegenheit bisher nicht genutzt hatte. Vor allem aber konnte ich mir ein Leben ohne Paule vorstellen, ja es erfasste mich so etwas wie Erleichterung, ein loses Gefühl der Ungebundenheit und die Idee, noch jung zu sein, am Anfang zu stehen, noch einmal neu beginnen zu können. Ich beschloss, zuvor noch ein letztes Mal ins Krankenhaus zu gehen.
    Unbeschwert, geradezu fröhlich, saß Paule im Weiß ihres Krankenbetts und begrüßte mich, als wäre nichts gewesen. Die Astern standen mit hängenden Köpfen in einer zu engen Vase. Paule lachte immerzu und schien sich darüber zu freuen, dass ich da war, was mich wütend machte bis an den

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