Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
begleiteten ihn in die Seitenstraße, wo sich ein Wohnheim für obdachlose Männer befand. Die Goretexjacken wagten sich jetzt in ihr Auto mit Liechtensteiner Kennzeichen, das Rollermädchen flitzte mit fliegendem Haar davon, die Gaffer zerstreuten sich. Nichts war passiert. Ein Sonntagnachmittag wie jeder andere. Ein Mensch war herausgefallen, war aufgefallen, war aufgefangen und wieder einsortiert worden.
Ein Gefühl von Unausweichlichkeit, als Lio wimmerte und ich die schwachen Saugbewegungen und den Milchpegel beobachtete, der nicht sank. Endlich war es ihr gelungen, ein paar Schlucke zu trinken, die sie kurz darauf mit der Rülpsluft wieder erbrach. Erschöpft schlief sie an meiner Schulter ein, ich legte sie ins Bett und setzte mich an meine Arbeit. Paules Mutter Gerda würde ich morgen anrufen. Es musste sein. Für Lio. Für das Kind wollte ich es tun. Später einmal wollte ich ihr sagen können, ich hätte alles versucht, um ihre Mutter zu finden.
Grau, ich musste ein graues Papier nehmen, noch besser Karton – graue Schlieren, graues Folienbild, graue Pappe. Grau fortan die Farbe des Glücks. Große Bogen französischen Papiers, zweihundertgrämmig sollte reichen, zuerst eine Porträtskizze von Gene, die Hautlappen, die vereinzelten Brauenhaare, der winzige schiefe Mund, in dem immer eine Selbstgedrehte steckte, die Pianistenhände, lange, bewegliche Finger, kaum als männliche erkennbar, in denen er den kleinen Hut hält. Ich skizzierte ihn in verschiedenen Posen, schlafend, ins Klavierspiel versunken unter einem einsamen Spotlight während des Konzerts, der verwachsene Körper im schwalbenschwänzigen Frack, ein Spiegelei bratend mit der Zigarette in der Hand. Zu Sue, der Fagottspielerin, fiel mir erst nichts ein, sie war zu normal irgendwie. Mehrere Tage später hatte ich eine Ahnung von ihr, vor allem, dass sie schön sein sollte, sehr schön, dass sie die Liebe des Gesichtslosen erwiderte, denn sie hatte sich in sein Klavierspiel verliebt, und alles andere wurde nebensächlich. Weiter. Mehrere Perspektiven von New York, die Wolkenkratzer von oben, ein bisschen Mœbius abgekupfert, die Twin Towers im Süden von Manhattan, hier sollte sich eine entscheidende Begegnung abspielen – Sue, die, um Geld zu verdienen, in einer Jazzband Saxophon spielte, lieferte mit ihrem Ensemble die Hintergrundmusik zur Feier eines Finanzinvestors, man feierte den Erfolg eines neu eingeführten Hedgefonds, der Mann ohne Gesicht spielte ein paar Standards aus dem Great American Songbook zunächst mit Hut und dem Rücken zum Publikum, machte jedoch nach dem ersten Set den Fehler, die Hautlappen zu lüften, um sich den Schweiß abzuwischen, stummes Befremden wurde zu leisem, dann empörtem Gemurmel, eine Frau fiel um, Gläser brachen, der Agent betrat die Bühne und appellierte an das Mitgefühl der Festgesellschaft, die sich nicht beruhigen wollte, sodass Sue ihren Geliebten von der Bühne und ins Treppenhaus zerrte, wo der Wald rauschte und ein leiser Abendwind die Wipfel zum Wogen brachte.
Eine Amsel flötete, wir lagen auf dem Teppich aus Moos und braunen Nadeln, sie fasste mich an mit leichter, leichter Hand. Ihre Augen, schwärzer als die dunkle Waldnacht, schwärzer als der Raum, der uns umschloss, waren kaum zu erkennen, lagen weit auseinander und wie lauernde Pelztiere unter dem Wurzelwerk der struppigen Brauen versteckt. In der Dunkelheit erinnerte ich mich leichter, was zu tun war, konnte mich Paule leichter überlassen, mich anfassen lassen, meist war ich es, der sie anfasste, mit der Zunge betastete, untersuchte überall, sie erforschte, in Besitz nahm, mir einverleibte, bevor ich mich in ihr verlor. Mit den Fingertentakeln hasten und wandern über den hellen Leib; die Beine auseinanderschieben, lecken, was sich zeigte, die Weichheit, das Durcheinander. Zögern. Warten auf das Zeichen, das alle Männer kennen. Schwellenkunde. Das erste Mal nach der Begegnung im Plattenladen.
Paule wollte es draußen, im Blustwald, in einer Unterführung, auf einer Friedhofsbank, in den Furchen eines frisch gepflügten Ackers, im Gedränge eines Open-Air-Festivals tun; ich glaubte, es sei der Kitzel, entdeckt und überrascht zu werden. Doch das war es nicht. Paule wollte unter freiem Himmel, im offenen Raum sein, nicht im Kubus einer Dreizimmerwohnwabe. Die Tiefe des Alls über ihr, und zwischen dem unendlichen Nichts und ihr nur mein Körper, mein Gesicht. Das sagte sie, und ich glaubte es, hörte die Liebeserklärung
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