Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
besuchen.
Damals hätte alles zu Ende sein können. Alles hätte eine andere Wendung nehmen, und mein Leben ganz anders verlaufen können.
8
Wir rasen in ein Nebelfeld, noch immer huschen Bretterzäune vorbei, die Lichter des Jaguar vor mir verblassen, leuchten grell wieder auf. Ich bremse, Lio fliegt in ihren Gurt, sie brummt, weil sie geweckt worden ist. Fünfzig Kilometer, erst 10:18 Uhr, und wir stecken schon zum dritten Mal an diesem Morgen fest. Noch eine halbe Stunde bis zur Grenze. Graue Nebelwolken lasten auf der Landschaft und der Wagenkolonne, die durch sie hindurchkriecht. Kleine Tropfen fallen. Das Föhnfenster hat sich geschlossen.
Lange saß ich auf einer Bank am Seeufer, sah den Linienschiffen zu, den roten Tretbooten und den Schwänen, die auf dem Wasser schaukelten. Ich lauschte den Gesprächen der Werktätigen, die ihre Lunchpakete aßen, scharrte mit dem Schuh im Kies, und da, ganz unvermittelt, überrollte mich die Freude, spülte meine Bedenken weg, gischtete bis in die letzten Winkel meiner Zweifel. Ein Kind, ein kleiner Mensch, ein Wesen, das ich gemacht hatte. Paule unter mir, ein brauner Fisch, der zappelte. Ich hatte mir das Kind nicht gewünscht, doch nun, da es da war und in Paule lebte und wuchs, wollte ich es. Ich wollte es kennenlernen. Wissen, wer das war. So ging ich unverdrossen jeden Tag in die Klinik und redete bei jedem meiner Besuche auf sie ein. Dass ich das Kind wolle, dass es auch meines sei, dass sie es nicht abtreiben könne ohne mein Einverständnis, dass ich ein Mitspracherecht habe und so fort. Ich redete und redete. Sagte alles, was mir einfiel, und in den Nächten allein zu Hause überlegte ich mir neue Argumente und dachte nach über Möglichkeiten, mein Leben neu einzurichten für das Kind. Für Paule und das Kind. Für uns drei. Die blumigen Zukunftsbilder, die ich entwarf, dienten auch meiner eigenen Beruhigung. Ich wollte nicht nur Paule überzeugen, sondern auch mich selbst. Mit meinen Monologen rang ich meine Zweifel nieder, die immer wieder hochploppten wie Korken, die unter Wasser gedrückt worden waren. Würde ich mich binden können, wenn nicht an Paule, so zumindest an das Kind; würde ich es versorgen, es ernähren können mit meiner Zeichnerei? Je mehr ich redete, umso verschlossener und abwehrender wurde Paule, umso begeisterter malte ich uns das Leben mit dem Kind aus. Wieder und wieder schickte sie mich weg, drehte sich zur Wand, wenn ich kam, zog sich die Decke über den Kopf, schwieg oder drohte oder schrie mich an. Wieder und wieder besuchte ich sie, redete auf sie ein, bekniete sie regelrecht.
Und dann, eines Tages im September, an einem kühlen, sonnigen Morgen mit Spinnwebfäden in der Luft, stieg ich ein paar Haltestellen früher aus der Straßenbahn, ging über den Markt und betrat mit frischer Luft im Gesicht und einem Arm voll braunrosa Astern kurz darauf das Krankenzimmer, wo sie im Bett saß und mich anlachte. Wegen der Blumen, dachte ich. Paules Wangen hatten sich gerundet, ein letzter Hauch Sonnenbräune lag noch auf ihnen, die kurzen Haare trug sie gescheitelt und straff nach hinten gekämmt. Sie hatte ein cremeweißes Nachthemd mit Spitzenärmeln an und lächelte freundlich.
»Komm zu mir.« Sie klopfte auf die Matratze neben sich und nahm meine Hand. »Es ist vorbei. Ich habe es wegmachen lassen«, sagte sie, und als ich die Blumen sinken ließ, das Kind sei weg, abgetrieben. Lauernd sah sie mich an. Ich legte die Blumen auf das Deckbett, als nähme ich Abschied von einer Leiche, stand auf und sah aus dem Fenster. Leere, ein Vakuum, schwarz und undurchdringlich, das jeden Funken Kraft aufsog, verschluckte und vernichtete. Kein Taschentuch in Jacke oder Hose. Wasser lief über mein Gesicht. Ich verrieb die Tränen mit den Handflächen, als wischte ich mir müde Gedanken weg, sie sollte mir nichts anmerken. Tat sie auch nicht, denn sie war viel zu sehr mit ihrer Freude und sich selbst beschäftigt. Ich nahm die Blumen, ging ins Bad und legte sie ins Waschbecken. Ich wusch mir die Augen aus und erschrak vor dem umränderten Blick, der Trostlosigkeit da im Spiegel. Grau die Haut, die Haare standen ungeordnet vom Kopf, das T-Shirt hatte Blutspritzer vom Rasieren und die Lederjacke einen speckigen Kragen. Ich warf mir mehr kaltes Wasser ins Gesicht, bis der Druck hinter den Augen ein wenig nachließ und die selbstzerstörerischen Gedanken von mir abperlten.
Mit Abschiedsworten im Kopf ging ich zu Paule zurück, die inzwischen von
Weitere Kostenlose Bücher