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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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schleppte mich dahin. Wir kletterten über stillgelegte Bahngeleise, denen das Gras kniehoch zwischen den rostigen Schienen wuchs, querten Ausfallstraßen und Werkhöfe, überkletterten Umfassungsmauern und Absperrgitter. Sie nahm mich in die Häuser mit, die roh sein mussten, unfertig und unbewohnt. Häuserschädel, die sie wittern konnte. Kamen wir an eine Baustelle, liefen wir am Bauzaun entlang, bis wir an einer nicht einsehbaren Stelle die Rucksäcke hinüberwarfen, die Schlafsäcke hinterher. Spitzbubenleiter. Sie stellte ihre Schnürstiefel in meine verschränkten Hände, sprang leichtfüßig hinüber und suchte ein Tor, einen Eingang, einen Durchschlupf für mich. Das Gehäuse, das sie für uns auswählte, musste in einem bestimmten Zustand des Unfertigen sein, die Wände unverputzt, der Dachstuhl aufgerichtet, das Dach gedeckt oder nicht, je nach Jahreszeit und Gegend, in der wir waren. Ein bestimmter Geruch, nicht modrig, sondern von frischem, feuchtem Staub, noch in den Räumen, selbst wenn mancherorts das Wasser in Pfützen auf dem Estrich stand, roch es kühl nach frisch verarbeitetem Zement. Leer mussten die Räume sein bis auf ein paar Bretter, auf denen die Schubkarren Schwellen und Absätze überwanden, bis auf ein paar verrostete Drähte, krumm geschlagene Nägel da und dort, ein vergessener Handschuh, ein zementbespritzter Eimer. Das Wichtigste aber und unabdingbar waren die Öffnungen. Leer gähnende Fensterlöcher, klaffende Türrahmen in dem kahlen Hausschädel. Sie liebte den Zustand des Halbfertigen, des Nochnicht, das dem des Nichtmehr so nah ist. Sie liebte den Betongeruch, die Pfützen, den herumliegenden Bauschutt, das erregte sie. Wir suchten einen Raum, der sich gegen Westen öffnete, in dessen Fenster noch der Rest eines dreckigroten Sonnenuntergangs klebte. Der Abendwind strich über das Brachland der Baustelle, trug ein Rufen, ein Reifenquietschen, ein Lachen oder das Wellenschlagen, das Wispern der Ölbaumblätter oder das Kreischen der Zikaden an unser Ohr. Wir lagen in den Schlafsäcken, lauschten und atmeten in die Nacht. Sanft wehte der Wind über uns hin und rückte uns zueinander, so nah, dass wir den Reißverschluss öffnen und uns anfassen konnten. Im Innen das Außen. Ein Summen vor Glück. »Geh lieber ohne Bürde schlafen«, sagte sie und ließ die Hände huschen, »dann träumst du von morgen und dein Bett ist dir leicht.« Wir vereinten uns mit dem Wind, diesem Wind, der ein Jahr durcheilt in einer Nacht. Noch am Morgen ging er durch den Raum, öffnete mir die Sinne, und mit leisem Puffen fiel das biedere Zubehör der Wirklichkeit von mir ab.
    Vom griechischen Festland trieben wir so durch die Türkei bis Südostanatolien, wo wir wegen der Kurdenaufstände nicht mehr weiterkamen. Wir wollten nach Syrien und auf dem Landweg nach Indien reisen, steckten jedoch fest und blieben ein paar Wochen in einem Dorf am Fuß des Nemrut Da ğ ı, wo wir darauf hofften, dass die Lage sich bessern würde und wir weiterreisen könnten. Paule schnitt sich die Haare mit der Nagelschere millimeterkurz, band sich mit elastischen Binden die Brüste ab und rieb sich mit Kholstift Bartschatten ins Gesicht. Ich kaufte ihr weite Hosen und eine Weste, und so saßen wir mit den einheimischen Männern im Kahve, tranken süßen Tee und knackten Kürbiskerne. Sie genoss die Freiheit als Mann, saß breitbeinig auf ihrem Hocker und spielte mit mir Backgammon, während ich mich unruhig umsah und fürchtete, dass ihre Maskerade entlarvt würde.
    »Du machst mich nervös«, sagte sie und schüttelte die Würfel in der hohlen Hand. »Wenn sie es merken, dann nur, weil du dich so auffällig verhältst.«
    »Das war bis vor Kurzem Kriegsgebiet hier, ich habe Angst um dich.« Sie lachte und verschob gelassen ihre Steine. Wie beim Tischfußball spielte sie auch dieses Spiel mit viel Einsatz und verlor doch immer gegen mich. Vielleicht waren es die frischen Feigen, die wir körbeweise aßen, vielleicht das Wasser oder das lauwarme Essen, vielleicht war sie doch schwächer und zerbrechlicher, als sie sich eingestehen wollte, jedenfalls wurde sie sehr krank. Sie hatte Durchfall und erbrach sich und war innerhalb weniger Tage so geschwächt, dass sie eines Morgens nicht mehr aufstehen konnte. Ich wollte sie zu einem Arzt bringen, doch sie wehrte sich, verbrauchte die Kohletabletten aus der Reiseapotheke und sagte, es werde ihr bald schon wieder besser gehen. Ich besorgte Tee und versuchte, mit heißem Wasser und

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