Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
Vom Netzwerk:
darin.
    Ich legte den Stift zur Seite, streckte den Rücken durch und nahm die graue Folie von der Wand. Das Wolkenkind bewegte sich, es hüpfte und sprang, es turnte und schwamm vergnügt in seinem postkartengroßen Käfig herum. Ich machte ihm ein Versprechen.
    Bis zu seiner Geburt wollte ich den Comic vom Gesichtslosen fertig haben. Und ich schaffte nicht nur das. Die Zed-Editions, die den Nukleus gemacht hatten, kauften ihn. Ich fragte Max, ob er mit nach Angoulême käme im Januar, wir beschlossen, gemeinsam zu reisen, ich hatte Lust, mich wieder in der Szene rumzutreiben, und war entschlossen, im Jahr darauf mit einer eigenen neuen Arbeit zum Festival zu fahren.
    Ein grüner Luftballon hing an der Tramhaltestelle. Darunter klebte ein Zettel. Geht über den See zu Fuß / der Käpt’n ruft » Ahoi« zum Gruß . Richtig. Die Quaibrücke bog sich über die kompakte Fläche des unteren Seebeckens, das Wasser lag grau als begehbare Graphitwüste da, und in ihr festgebacken die Schiffe, die Boien, die Haubentaucher, die Schwäne und ein paar Möwen, die der Winter übrig gelassen hatte. Eine erstarrte Schneekugellandschaft breitete sich bis zur Betonwand des Horizonts, dahinter die Glarner Alpen, kleine Welt, bergumstellt, in der ich lebte, abgeschottet durch den steingewordenen Vorhang aus Häusern, Gipfeln, Seefläche, geschützt vor allem, was kommen mochte, Föhn, Sturmwind, Ungemach. Und die Vorstellung von Veränderung, Bewegung, Öffnung. Meine überreizten Gedanken sprangen wie Frettchen zwischen Ambitionen, Freiheitsdrang und dem Wissen um Paule hin und her, die zu dieser Stunde im Krankenhaus lag und unser Kind gebar. Sie rannten übers Wasser, rannten an gegen die Unerbittlichkeit des begrenzten Raums, die eingeschränkten Möglichkeiten. Es war der erste Tag im April. Ich riss den Ballon ab und fuhr in die Maternité.
    Paules Gesicht war aufgedunsen, und in ihren Augen leuchtete ein matter Glanz. Sie streckte mir beide Hände entgegen. »Hilf mir aufzustehen.« Kein Wort darüber, dass ich zu spät kam, dass ich nicht bei ihr gewesen war, dass ich die Geburt verpasst hatte. Kein Wort über das Kind. »Ich brauch dich jetzt.« Ich gab ihr den Ballon, umfasste sie, und sie legte die Hände um meinen Nacken, um sich hochzuziehen. Vorsichtig stemmte sie sich von der Gebärliege hoch, stützte sich einen Augenblick auf meine Schulter und ging dann allein zur Tür, wo sie stehen blieb, um sich abzustützen. In breiten Streifen lief ihr das Blut an der Innenseite der Beine hinab. Ich sprang ihr bei und begleitete sie in die Dusche, dann zurück zu der Matratze am Boden, auf der wir die letzte Nacht verbracht hatten. Die Nacht vor Lios Ankunft. Ich legte mich zu ihr und bemerkte verschiedene Leute im Raum, die geschäftig herumliefen und die Spuren der Geburt beseitigten. Eine Person stand mit dem Rücken zu mir an einem hohen Tisch und machte sich an einem Bündel zu schaffen. Das musste es sein. Ich wollte aufstehen, doch Paule hielt meine Hand fest. Mit leuchtenden Augen sah sie mich an und durch mich hindurch, dann ging ihr Blick an die Zimmerdecke, eine weiß getünchte Fläche ohne Halt für den irrenden Blick. Ich strich ihr das feuchte Haar aus der Stirn.
    »Ich habe einen Kern in mir«, sagte sie, »der ist sehr klein und fest. Den kenne ich gut, der bin ich. Aber um ihn herum ist eine Hülle, und die reagiert und funktioniert und zwingt mich, weiterzumachen, immer weiter.« Sie schloss die Augen und machte eine lange Pause. Schon glaubte ich, sie sei eingeschlafen, da sprach sie weiter. »Die beiden sind nicht miteinander verbunden. Zwischen Kern und Hülle ist nichts. Nur eine große Leere. Ein Vakuum, das ich nicht füllen kann.«
    Sie sah mich und versuchte zu lächeln. Ihr breiter Mund öffnete sich nicht, das Lächeln flatterte um die Mundwinkel, dann sah ich das Zittern in ihrem Kinn, und Tränen rollten aus den Augen über die Schläfen und versickerten im Haar. Ich schloss sie in die Arme.
    »Der See ist dunkel heute. Grau und wie aus Beton«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. »Man kann vom Bellevue aufs Wasser gehen und die Limmat hinunterlaufen bis zum Platzspitz, da in die Sihl einbiegen und hinterm Selnau auf den Zug springen. Et voilà. Ich bin heut übers Wasser gelaufen. Zu dir.«
    » Jesus Christ, ich glaubs nicht …«.Sie gluckste, dann ächzte sie, weil ihr beim Lachen etwas wehtat.
    »Schlaf jetzt.« Sie rollte sich zur Seite und zog die Knie an die Brust. Ich steckte die

Weitere Kostenlose Bücher