Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
Vom Netzwerk:
sich die Tür, und drei Frauen traten ein. Der Falben, die mich anlächelte, folgte eine sehr junge Ärztin mit Stethoskop am Hals, ins Gespräch vertieft mit einer dritten, die ebenfalls wie eine Schwester aussah. Die beiden Schwesternartigen machten sich sofort an Lio zu schaffen, während die Ärztin mich einer Befragung zu Lios Trink- und Schlafgewohnheiten unterzog, nach Schwangerschaft und Geburtsverlauf fragte und auf die abwesende Kindesmutter zu sprechen kam.
    »Beruflich verreist«, log ich und stellte fest, dass ich begonnen hatte, mein Leben ohne Paule zu denken. Ich beschloss, mir eine Geschichte mit mehreren Variatio nen zurechtzulegen, die Paules Verschwinden erklären sollte: dass sie erschöpft sei und sich bei ihrer Mutter in den Bergen erhole, dass sie, als IT -Fachfrau, beruflich sehr gefragt und viel auf Reisen sei, oder dass wir es machten wie die Pinguine. Das Weibchen legte das Ei und schaufelte es in einem akrobatischen Akt in Windeseile auf die Füße des vor ihm stehenden Männchens, das geschwind die Speckfalte seines Bauchmantels darüberschlägt, um es zu bebrüten, während die Weibchen sich aufmachen, ins Wasser, wo sie sich fett fressen und, zurückgekommen, den Flaumknäuel übernehmen, ihn ihrerseits unter der Bauchfalte bergen und dort füttern, bis das Kleine stark genug ist, um den Weg an die Kante der Eisscholle zu seinem ersten Bad im Meer zurückzulegen.
    Der Ärztin präsentierte ich die Variante mit dem beruflichen Erfolg, die würde ihr am ehesten einleuchten, dachte ich und hatte recht. Sie war eine grobknochige Person mit einem Wust roter Haare, der wie ein Eisbeutel auf ihrem Scheitel lag. Mit ihrem weißen, länglichen Gesicht darunter sah sie aus wie ein Fliegenpilz. Ohne meine Worte zu kommentieren, musterte sie mich aus vorquellenden Augen, Mitleid im Blick oder Missbilligung, das konnte ich nicht einschätzen. So taxiert, begann ich unwillkürlich vor und zurück zu wippen, mit einer geschmeidigen, aus der Hüfte kommenden Bewegung. Irritiert sah sie zur Seite, wandte sich dann abrupt ab und widmete sich dem Kind, das jetzt nackt unter dem roten Licht einer Wärmelampe lag und mit den Augen den Raum absuchte. Zwischen die dickfleischigen Lippen hatten die Schwestern einen Plastikbeutel geklebt, der sich jetzt, als die Kleine zaghaft lächelte, mit Urin zu füllen begann. Bestürzt sah ich aus dem Fenster, wo der Wind in die Wipfel zweier Tannen sprang und sie unkontrolliert schüttelte. Aus den Tannenzapfen stoben braune Flügelchen in eine Welt, zu der wir nicht mehr gehörten.
    Vor einem dunklen Himmel schwankten die Wipfel der Tannen im Wind, da hat sie mich angefasst mit leichter, leichter Hand.
    Die Ärztin prüfte Lios Länge und Gewicht, und auch sie freute sich über den äffischen Klammerreflex. Im Überweisungsbericht des Drusenarztes blätternd, forderte sie mich auf, das Kind wieder anzuziehen, und ließ den Blick nicht von den tastenden Fingern, mit denen ich mich an Lio zu schaffen machte, wobei sie die bevorstehenden Untersuchungen kommentarlos aufzählte. Röntgen: Rumpf, Extremitäten, ganzer Körper; Blutstatus, Urinanalyse, Bauchultraschall, Schweißuntersuchung, Herztöne, EEG . Zunächst jedoch werde man das Kind stationär aufnehmen und es von einer erfahrenen Kinderkrankenschwester mit der Flasche ernähren lassen, es müsse an Gewicht zulegen. Die Falbe lächelte siegesgewiss. Mir war nicht nach einem Schoppenflaschenwettbewerb zumute, deshalb übersah ich das und stimmte den Vorschlägen der Ärztin zu.
    Lio rollte in einem Bett aus Plexiglas zu drei anderen Kindern in ein Krankenzimmer, wurde ans Fenster gestellt, und ich setzte mich neben sie. Die Kinderkrankenschwester brachte die Flasche und beobachtete, wie ich dem Kind wenige Milliliter einflößte, bevor sie übernahm. Resolut presste sie Lio an ihren dicken Busen, drückte ihr den Sauger in den Mund und redete auf sie ein. Lio wimmerte kurz, dann machte sie, was sie immer machte, wenn ihr alles zu viel wurde, sie schlief ein. Um sie zu wecken, fuhr ihr die Schwester mit entschlossener Hand über die Stirn und schob ihr erneut die Flasche in den Mund. So ging das über eine Stunde lang. Um es nicht mit ansehen zu müssen, ging ich mehrmals nach draußen auf eine der Feuertreppen, wo ich rauchte. Schließlich wurde es auch der Schwester zu viel, sie holte die Ärztin, und gemeinsam beschlossen sie, das Kind zu sondieren.
    Sechsundfünfzig Tage. Zwei Mondmonate war Lio alt, als sie ins

Weitere Kostenlose Bücher