Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Krankenhaus gebracht wurde. Gedeihstörung nannten sie es. Ich saß und hielt sie auf dem Schoß, während wir warteten, was weiter geschehen würde. Sie sah in die Wolken, aus denen es regnete. Der Wind hatte sich gelegt, und Lio sah so unverwandt in den Himmel, als zählte sie die Tropfen oder könnte durch die Wolkendecke hindurch ins Himmelblau sehen. Ein Irrtum, wie ich bald erfahren sollte. Denn Lio sah wenig, vor allem nicht räumlich, da sie mit dem linken Auge einwärts schielte und auch das rechte nur die halbe Sehkraft hatte. Mir schien, sie war weit weg, und auch ich war nicht mehr anwesend. Ich dachte an meine Arbeit, den Gesichtslosen, der von den Zed-Editions doch nicht verlegt wurde, genauer, dessen Erscheinungstermin auf einen unbekannten Zeitpunkt verschoben worden war, was einer Absage gleichkam. Ich wischte die Gedanken an meine Aufträge beiseite, zu sehr stresste mich der verlorene Tag auf den Wartestühlen der Klinik. Ausstehende Deadlines, halb fertige Sachen, vor allem, dass der Monat zuende ging und die Miete abgebucht werden würde, ich brauchte dringend Geld. Stattdessen war ich hier an einen Stuhl gefesselt, mit dem kranken Kind auf dem Schoß, und beobachtete, wie aus dem regentropfenden Berghang Nebelschwaden stiegen. Aus dem düsteren Nadelwald kroch geräuschlos die rote Bahn und hielt. Menschen quollen aus ihrem Inneren, dunkle Gestalten, die sich rasch zerstreuten. Der Bahnsteig lag eine Zeit verwaist da, dann füllte er sich wieder.
Lio röchelte leise im Schlaf. Ich bettete sie zurück in den Glaskasten, als flackernd das Deckenlicht anging, man Lio wieder holte, und ich beeilte mich zu folgen. Wieder legten sie das Kind auf den Untersuchungstisch, machten es wach, und es begann leise zu greinen. Ich legte die gewölbte Hand auf seinen Kopf, wurde jedoch beiseitegeschoben, und dann ging alles sehr schnell und gleichzeitig unerträglich langsam.
Die Falbe riss eine Plastikverpackung auf und entnahm ihr einen dünnen Schlauch, an dessen Ende ein Kippverschluss angebracht war. Den legte sie auf Lios Bauch, maß die Länge vom Nabel bis zur Nase, gab noch eine Armlänge hinzu und schnitt ihn ab. Fest drückte die andere, eine Lernschwester, Lio auf die Unterlage, damit die Falbe dem Kind das abgeschnittene Schlauchende in das Nasenloch stecken konnte. Lio gab schluchzende Laute von sich, während die Schwester den Schlauch in sie hineinschob. Und schob. Und schob. Und der Schlauch wie ein gläserner Wurm aus Lios schreiendem Mund wieder herauswuchs und sich auf ihrem Gesicht ringelte. Als die beiden es bemerkten, zogen sie die Sonde aus dem Kind heraus, öffneten eine zweite Packung, maßen die Länge, hielten das Kind fest und steckten die Sonde in die Nase. Wieder schob die Schwester und schob, wieder kroch der Schlauch dem Kind aus der Mundhöhle, wieder zogen sie ihn zurück und probierten es mit einem neuen. Beim dritten Versuch fand er seinen Weg in Lios Speiseröhre und hinunter in den Magen. Aus einem weißen Klebstreifen schnitt die Schwesternhelferin ein Herz aus, mit dem sie den Schlauch auf Lios Wange fixierte, während die andere die Milchflasche und eine Spritze holte. Gemeinsam füllten sie die Spritze, öffneten den Kippverschluss und drückten die Milch in Lios Bauch. Dies wiederholten sie mehrere Male, wobei sie mir die Prozedur erklärten. Zwischen den Spritzenfüllungen musste der Kippverschluss geschlossen werden, am Ende musste das durchsichtige Rohr mit destilliertem Wasser oder Fencheltee durchgespült werden. Dann wurde das Schlauchende zusammengerollt und im Nacken des Kindes unter der Kleidung verstaut. Zuletzt wurden Lios Hände in winzige Baumwollbeutel gesteckt und am Handgelenk zugebunden. Sie fuchtelte wie eine Boxerin, doch als ich sie in ihrem Zimmer wieder ans Fenster stellte, war sie bereits wieder eingeschlafen. Ich saß noch lange bei ihr und sah hinaus in die nasse Nacht.
Unermüdlich nahm die Bahn ihren Weg zwischen Hauptbahnhof und Bergstation, auf und ab, hin und her, von morgens früh bis spät in der Nacht, hoch auf den Berg und zurück in die Stadt, ich sah den Scheinwerfern zu, und als sie zum wiederholten Mal im Wald verschwanden, überkam mich der Wunsch, einfach abzuhauen. Weit weg. Noch einmal neu beginnen, in einem anderen Leben, mit einem anderen Kind, einem heilen. Perfekten. Derweil schlief die Kleine einen tiefen, satten Schlaf, ein Engelslächeln huschte über ihren Mund, und sie begann ganz leise zu schnarchen.
Ich war
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