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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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unschlüssig, ob ich bleiben oder nach Hause gehen sollte, die unerledigte Arbeit plagte mich, doch wenn ich ginge, so fürchtete ich, könnte mir das Kind abhandenkommen. Mehr als der absurde Gedanke, das Kind könnte verschwinden, bedrängte mich nach und nach die Vorstellung, ich selbst ginge da draußen in der Nacht verloren und fände den Weg nicht mehr zurück.
    Der Bankautomat auf dem Nachhauseweg schob mir die Karte wieder entgegen, kein Barbezug möglich, und aus dem Briefkasten fischte ich nur Rechnungen, Werbesendungen und die Aufforderung, einen eingeschriebenen Brief abzuholen. Ich ging im Mantel ans Telefon und wählte Gerdas Nummer.
    Freiheit. Die Anstrengung der Freiheit war es, die Paule gewählt hatte. Wir hatten sie gemeinsam gesucht und geglaubt, sie gefunden zu haben, nichts wäre uns zu viel, hatten wir geglaubt, kein Aufwand zu groß, um der Freiheit standzuhalten. Gemeinsam. Das war unser Plan gewesen. Als ich Paule begegnete, lagen Jahre hinter mir, in denen ich versucht hatte, mir selbst auf die Spur zu kommen, meiner Angst vor der Einsamkeit, der Freiheit. Dann hatten wir uns zusammengetan, und plötzlich schien alles verführerisch leicht. Gemeinsam stemmten wir uns gegen das, was als Dauerforderung des gelungenen Lebens um uns Raum griff: der getaktete Alltag mit Festanstellung, sportlicher Betätigung, ausreichend Schlaf und maßvollem Alkoholgenuss. Basenfasten, Darmreinigung, Bioprodukte. All die Gebote des richtigen Lebens hatten für mich nicht gegolten. Für Paule noch weniger, und das hatte mich so zu ihr hingezogen. Den eigenen Willen kennen, das Leben gestalten. Dies vor allem: Herrschaft über das eigene Leben und Verachtung jeder Idee von Schicksal – das hatten wir zu unserem Ideal gemacht. Und je enger und strenger die imperativischen Vorgaben uns umschlossen, umso bedingungsloser wollten wir es. Freiheit von allen Sicherheiten und Konventionen. So hausten wir in dem bröseligen Raum zwischen Stamm und Borke, zwischen dem harten Holz der fraglosen Zugehörigkeit und dem vermeintlich nutzlosen Schorf, den die randständigen Außenseiter bilden, dieser krustigen Schutzschicht, die das Innere so blank hält. Wir waren die Bewohner eines Zwischenreichs. Grenzgänger zwischen Kambrium und Bast.
    Was jetzt vor mir lag, zeichnete sich überdeutlich ab: Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, nein, der Rest meines Lebens, zwischen Freiheitssehnsucht und den Fesseln einer schicksalhaften Randexistenz. Ständige Angst, aussortiert zu werden, menschlicher Abfall zu sein. Unbefangene Begegnungen würden nicht mehr möglich sein, und in dieser Gewissheit befiel mich das unwiderstehliche Verlangen zu tun, was Paule getan hatte, abzuhauen. Stattdessen: unbezahlte Rechnungen, eingeschriebene Briefe, unerledigte Aufträge, ein leeres Bankkonto, ein Kind im Krankenhaus und seine flüchtige Mutter.
    Während ich auf das Tuten im Hörer lauschte, tat ich mir gewaltig leid, und fast begann ich, mich auf die frostigen Worte von Paules Mutter zu freuen. Sie würde mir Grund geben, in Wut zu geraten. Endlich. Die Arvenstube mit den niedrigen Decken, dem Ofen aus Eisen und Glas, den von Gitterstreben unterteilten Fenstern. Die knarrenden Treppen, das ganze alte Bauernhaus, mit sehr viel Geld sehr schlicht renoviert, moderne Kunstdrucke an den Wänden, Stahlrohrmöbel, futuristische Teppichmuster. Paule hatte mich ein einziges Mal mitgenommen in das enge Alpental, auf dessen Grund in den Wintermonaten kein Sonnenstrahl fiel, auch damals nicht, als wir während der Schwangerschaft dort waren, um es Paules Mutter mitzuteilen. Gerda, eine drahtige Frau mit dunkelgrauem Stoppelhaar und sehr rot geschminkten Lippen, arbeitete im Kantonsspital als Nachtschwester. Ich hatte den Eindruck von etwas Kühlem, Zähem und, wie ich sofort herausfand, keine Chance bei ihr. Sie hatte einige Jahre mit Paules Vater, einem Norddeutschen, in München gelebt und war auf die Deutschen nicht gut zu sprechen. Dass ihre Tochter, für die sie ehrgeizige Pläne hatte, sich mit einem aus dem großen Kanton vermehrte, gefiel ihr nicht. »So, hast du dich mit dem großdeutschen Reich vereinigt«, sagte sie, mit Blick auf Paules runden Bauch. Paule machte eine hilflose Handbewegung und stammelte, das mit mir sei doch etwas anderes, sie selbst immerhin eine halbe Deutsche, doch ihre Mutter hatte sich abgewandt und mit der Feuerzange im Schwedenofen gestochert. »Damit musst du mich jetzt wieder quälen«, sagte sie, auf Paules Vater und ihre

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