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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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das erfuhr ich jetzt. Lio war eins unter zehntausend Kindern. Der Professor, der die Untersuchung der Kollegen von seinem Schreibtischstuhl aus beobachtet hatte, erhob sich jetzt gerade so weit, dass er den dicken dunkelblauen Wälzer vom Regal holen konnte, schlug ihn auf und blätterte, halb stehend, als wäre er im Begriff, vom Startblock ins Schwimmbecken zu springen, bis er die entsprechende Stelle fand, ließ sich auf den Stuhl zurücksinken, das geöffnete Buch fast zärtlich an die Brust gedrückt, legte es auf den Tisch und strich mit dem Handrücken über die geöffneten Seiten, um sie weiter zu spreizen, fuhr mit einem Finger die Furche entlang und las:
    »Distinktes Dysmorphiesyndrom unbekannter Ätiologie. Mikrozephalus variabler Ausprägung mit großem Fonticulus anterior, äthiopathogenetisch handelt es sich um eine autosomal-dominante Neumutation, ein Genlocus auf Chromosom 23, möglicherweise Deletion.« Er schloss das Buch mit einem Knall und stellte es zurück. »Wir machen einen FISH -Test.«
    Ich konnte dazu nichts sagen und schwieg.
    »Spontane Mutation«, sprach er weiter, »eins von zehntausend Kindern. Tja, wens trifft.« Er lächelte bedauernd und begann, in Lios Akte zu blättern. »Erhöhtes Tumorriskio im Schädel-Hirn-Bereich, EEG unspezifisch verändert, Hirsutismus«, murmelte er. Ich betrachtete das Kind auf meinem Knie. Es versuchte, den Kopf zu heben und nach der Stimme zu sehen, die da sprach. Als es ihr gelang, lächelte sie und tropfte. Eine Äffin. Ein Affenkind hab ich gemacht.
    Gemindert, verbreitert, auffällig, verformt, fehlerhaft, abnorm, übermäßig, verbogen, undifferenziert, abweichend war an der Äffin so ziemlich alles, wie ich jetzt erfuhr, und nur mir war es bislang nicht aufgefallen. Ich hatte einfach mit ihr gelebt und mich gewundert ab und zu.
    »Differentialdiagnostisch abzugrenzen gegen Saethre-Cotzen und Cornelia-de-Lange«, sagte der freundliche kleine Mann. »Der Bluttest gibt möglicherweise keinen Anhalt auf Deletion, so wäre im Augenblick nur eine Sichtdiagnose möglich, und ich müsste Sie bitten, in einem bis anderthalb Jahren wiederzukommen.« Der fünfundzwanzigste Mensch verstummte und sah uns beide nachdenklich an. Wieder betrachtete ich das Kind auf meinem Schoß, und wie eine Glaswand schob sich der eisige Anspruch der Normalität zwischen uns. Ich auf der einen Seite, Lio hinter der Wand, die sie von nun an von mir und den anderen trennen würde. Eins von zehntausend. Ich sagte immer noch nichts, der Professor neigte seinen freundlichen Haarkranz und drückte mir zum Abschied die Hand.

14
    Als wir nach Hause kamen, beschloss ich, Paule noch einmal zu suchen. In Strümpfen ging ich über den knackenden Parkettboden, sah in ihr Zimmer, wo das abgezogene Bett stand und darauf ein Karton mit ein paar letzten Dingen. Ich öffnete Schränke, Schubladen und das Spiegelschränkchen im Bad, sah in die letzten Winkel, ob ich nicht etwas vergessen hätte, einen Hinweis darauf, wo sie sein könnte. In einem vergessenen Winkel meines Bewusstseins hatte ich noch immer darauf gewartet, dass sie wieder auftauchte, dass sie nach drei Monaten einfach erschien, als wäre nichts gewesen, und wir unser turbulentes und chaotisches Liebesleben wieder aufnehmen würden. Ich grub in meinem Gedächtnis nach Namen, die sie erwähnt hatte, Joey, eine Kinderfreundin, einen Exlover, den sie nur den Mohr nannte, wobei ich nie herausgefunden hatte, ob dies sein Name war oder auf abfällige Weise sein Aussehen bezeichnete, die Leute in Paris. Sollte ich Gerda noch einmal kontaktieren? Paule hatte keine Geschwister, aber vielleicht Halb- oder Stiefgeschwister? Ich suchte das Adressbuch heraus und strich alle Nummern durch, die ich bereits angerufen hatte. Übrig blieben nur die Feuerwehr und der Pizzakurier. Wütend und frustriert warf ich das Adressbuch zu dem anderen Krempel in die Schachtel. Verstaubt und immer noch zu einem Haarband geknotet, lag das erbsengrüne Nickituch darin, es roch schwach nach Grapefruit und nach ihrem Haarboden. Ich nahm es mit in mein Zimmer und schob es unter die Matratze. Für Lio, sagte ich mir. Damit sie später etwas von ihrer Mutter hat.
    Aus der Korbwiege drang ein tiefes Röcheln des Einverständnisses. Lio schlief. Ich setzte mich an den Zeichentisch, doch die Kälte auf den Schulterblättern und das Gewicht des Rückenpanzers umklammerten mich bis in die Handgelenke. Lio seufzte und begann leise zu schnarchen. Ich legte den Kopf in den

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