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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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Kind erneut ins Bad, wo ich ihm mit dem Zipfel eines Handtuchs Gesicht und Hals wusch. Das Klopapier, mit dem ich die Kleider abrieb, hinterließ kleine Fussel auf Lios dunkelblauem T-Shirt. Ein säuerlicher Geruch hing am Kind, an mir, ich spritzte Rasierwasser von Max auf Windelhose und in meine Hände. Da klopfte es an der Tür und Regula bot mit unterdrückter Stimme noch einmal ihre Hilfe an. Statt zu antworten, setzte ich mich auf den Rand der Badewanne und wartete, bis die Türklinke sich wieder nach oben bewegte und Regulas Schritte sich entfernten. Ich starrte auf das pink- und orangefarbene Schlingenmuster der Fußmatte, das sich langsam zu bewegen begann. Dann rutschte ich auf den Boden, kühlte meinen Nacken am Rand der Wanne und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, schwankte die Stange des Duschvorhangs über mir sachte vor und zurück, vor und zurück, als säße ich auf der Schaukel, dann senkte sie sich langsam. Ich hatte keine Wahl. »Auf gehts, Kolograbsi«, sagte ich, und Lio hob wackelnd den Kopf und heftete ein kleines Lächeln an ihren Mund. Mit einem rosa Handtuch wischte ich mir den Schweiß und Lio den Speichel aus dem Gesicht.
    Die drei redeten weiter, als wäre nichts vorgefallen, doch merkte man der Beiläufigkeit ihrer Unterhaltung die Anstrengung an, eine Normalität zu behaupten, die nicht mehr vorhanden war. Kaum saß ich wieder, sprang Max auf und räumte die Teller ab. Kurz nahm er meinen in die Hand, überlegte es sich anders und stellte ihn zurück. Regula erklärte Josefine noch immer, was es mit den Fixerstuben auf sich hatte. Eigentlich sei sie Krankenschwester, doch habe sie ihrer Arbeit einen neuen Sinn geben wollen, weshalb sie ehrenamtlich arbeite, man müsse doch was tun gegen die Verslumung der Stadt, damit nicht eine ganze Generation Süchtiger im Elend versumpfe, das politische Klima sei von der SVP aufgehetzt, das verstünde sie, Josefine, wohl nicht, da sie Deutsche sei, du kannst es dir nicht vorstellen, wie gehetzt die sind, wie sehr die Junkies ums Überleben kämpften, jeden Tag, also echt.
    Josefine sah zu, wie ich Lios Spuckefaden mit meiner Blumenserviette abwischte, dann griff sie nach der Karaffe und wollte vom Bordeaux nachschenken, doch Regula legte schnell ihre Hand aufs Glas und rief zu Max in die Küche, ob er den Espresso mache.
    Josefine lächelte mir zu. Dann fragte sie, ob sie Lio ein wenig herumtragen dürfe. Ich hob ihr das Kind entgegen, froh, dass sie mich dabei nicht bedeutungsvoll ansah, sondern, als hätte sie jahrelang nichts anderes gemacht, das Kind mit dem Kopf gegen ihre Schulter gelehnt hielt und sanft wiegte, so dass es innerhalb kurzer Zeit eingeschlafen war und leise zu schnarchen begann.
    »Du entschuldigst, Regula«, brachte ich noch heraus, dann fiel ich über das kalte Essen her. Max kam mit dem Espresso, und Regula verschwand, um das Dessert zuzubereiten. Josefine ging mit dem Kind auf und ab. Wie leicht, wie anstrengungslos das wirkte, während sie sich gleichzeitig mit Max unterhielt. Erinnerungen an meinen verhärteten und verkrampften Körper gaben mir eine Empfindung von Steifheit, von Ungelenkigkeit. War da nicht doch eine Intuition im Frauenkörper, ein Wissen, so alt wie die Menschheitsgeschichte, das in einer Situation wie dieser ganz selbstverständlich abgerufen werden konnte? Selbst bei einem Kind wie Lio es war?
    There was a baby on a plane, maybe she was two / and she was smiling at me I was not sure what to do … Regula drehte die Musik lauter und sang, während sie in der Küche klapperte.
    Paule in einem Flugzeug, das den Nachthimmel durchquert, GIUBOTTO SALVAGENTE SOTTO LA POLTRONA. LIFE VEST UNDER YOUR SEAT. Die Stewardessen haben die Abdeckungen der Luken geschlossen, sie setzt die Schlafbrille auf die Augen. I kept my distance from you, a year’s much more than a while / so I kept away from her, too ashamed to smile. Sich fernhalten. Weggehen, weg bleiben. Max und Regula vermieden es, das Gespräch auf Paule zu bringen, so blieb ihr Verschwinden eine Leerstelle zwischen uns, die umso mehr auffiel, als sie von Lio alles wissen wollten. Besorgnis und Anteilnahme schwangen in ihren Stimmen, während ihre Augen vor Neugier glänzten.
    Max rührte mit einem winzigen Löffel im Espresso und sah nachdenklich in die Tasse. Zwischen uns beiden herrschte Einverständnis darüber, dass es unser Recht war, das Recht der Männer, fortzugehen und uns die Freiheit zu nehmen, die Fesseln der Familie abzuwerfen.

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