Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Da der Bordeaux getrunken war und kein neuer erschien, hatte Josefine sich wieder dem Whisky zugewandt und auch mir einen gebracht, den sie bereits zum dritten Mal nachfüllte, während Max zu dozieren begann.
»Das Wort Blöde kommt ja von Schwäche und hatte früher weniger mit Dummheit als mit einer gewissen Unfähigkeit zu tun.«
Max war leidenschaftlich an Etymologie interessiert und ging schon mal mit zwei Bänden des Grim m ’schen Wörterbuchs in den Urlaub. Ich hörte nicht hin. Was gings mich an.
»Blödsinnig, mit schwachen Sinnen ausgestattet, das ist noch keine Wertung, sondern zunächst eine Zustandsbeschreibung.« Ich versuchte ihn zu fixieren, doch er bewegte sich auf und ab vor den tanzenden Möbeln und Bildern, den Duftkerzen, Stein- und Muschelsammlungen, den in Reihen aufgestellten Barbiepuppen auf dem Sideboard, den silbernen Objekten, Leuchtern, Briefbeschwerern und Schneekugeln, dem ganzen Nippes und Kram, den Regula da angesammelt und ausgestellt hatte, alles tanzte hinter ihm, während er, milde lächelnd wie ein Buddha, auf und ab schwebte, die Hände über dem Bauch gefaltet, den er in der letzten Zeit angesetzt hatte.
Besoffen. Weinerlich und besoffen. Ich wollte gehen.
»Wenn nun«, fuhr er fort, » der Schwachsinn einmal eine ähnliche Bedeutung hatte wie der Wahnsinn – gehen wir einmal davon aus, dass diese Unterscheidung eine künstliche ist …«
»Warum künstlich?«, fragte ich, mehr um ihn zu unterbrechen, als um eine Antwort zu erhalten.
»Wusstest du nicht, dass heute jeder zweite geistig Behinderte im Lauf seines Lebens eine Doppeldiagnose erhält, dass ihm neben der geistigen auch eine psychische Krankheit attestiert wird, dann wird die psychische Behinderung als Folge der geistigen erklärt, ich aber behaupte, der Schwachsinnige bekommt sie nicht zwingend als Folge des Schwachsinns, sondern sie entsteht aus dem Umgang mit ihm und seiner Behinderung, sie entsteht aus der Abweichung von der Norm, die ihm ständig bewusst gemacht wird, mit der er überall konfrontiert ist – und die ihn in eine Spannung versetzt, die auszuhalten ihm die Mittel fehlen, intellektuell und verbal – was wollte ich sagen – ja, wenn die Blöde dazu führt, dass sie als das Dunkle, andere abgewertet und in Spezialeinrichtungen aussortiert wird, und wenn gleichzeitig eine Ideologie entsteht, derzufolge jeder und jede ein Behinderter ist, eine verharmlosende Bewegung, ein koketter Flirt mit dem Behindertsein als etwas Besonderem, das gern beansprucht wird, solange keine Nachteile daraus erwachsen, so passiert doch eine Neutralisierung des Besonderen im doppelten Sinn und damit nicht nur ein Wegschluss der realen Menschen in Anstalten, sondern der Ausschluss aus dem Bewusstsein einer ganzen Gesellschaft. Konrad, hörst du mir überhaupt zu?«
Doppeldiagnose. Esongaidleppod. Ich lachte.
»Du meinst, die Nähe zum Behinderten ist nur eine vorgespiegelte Nähe«, hörte ich Josefines Stimme hinter mir.
»Nähe nur zu der Idee der Behinderung, nicht zum einzelnen Menschen. Nähe nur zu dem minimalen Grad des Behindertseins, wie jeder ihn für sich akzeptieren kann, ohne aus dem gesellschaftlichen Rahmen zu fallen, genau.« Max redete sich in Fahrt. »Nähe, die nur den Zweck hat, ihn selbst zu etwas Besonderem zu machen und den Abstand so weit zu verringern, dass die Idee des Schwachsinns nicht mehr ängstigt, nach dem Motto: Im Grunde sind wir doch alle behindert.«
»Verstehe«, sagte Josefine. »Dem einzelnen Menschen, der auf einen zukommen, womöglich umarmen könnte, der schreien, laut lachen, zucken oder sich sonst unkontrolliert verhalten könnte, wird nicht begegnet, er ist ja außer Sichtweite, in einem schönen Heim auf der grünen Wiese untergebracht.«
»Die Idee der Abweichung«, fuhr Max fort, »wird nicht mehr durch reale Menschen verkörpert und sie wird in einer Bewegung des Einverständnisses erstickt, betäubt, mundtot gemacht, gelähmt. Wo, frage ich euch, bleibt der Abstand, die Welt, in der das andere lebt? Als ein Aspekt der vielseitigen Menschennatur? Wo bleibt der Raum für das Andere?«
»Ersticken durch Nähe. Abklemmen durch Verständnis. Ich verstehe.« Josefine zündete sich eine Zigarette an und ging auf den Balkon.
Regula stellte Dessertschalen auf. Selbst gemachtes Mangoparfait mit Karambolenscheiben, das sie mit Papierschirmchen und bunten Streuseln dekoriert hatte.
»Kann es sein, dass du zu viel Theorie liest?« Sie griff Max ins Haar und wuschelte
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