Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Wassertemperatur, den Lichteinfall, die Position des Duschvorhangs – alles war wie immer. Lio schluchzte. Ich hob eine Handvoll Schaum vor ihr Gesicht und blies hinein, dass die Flocken durchs Badezimmer tanzten. Durchscheinende Bäusche, fetzenhafte Blasenberge, weiße Federschwämme. Lio jammerte. Das war es also. Ich wickelte sie in ein Badetuch und schöpfte den Schaum vom Wasser ins Waschbecken, wo er knisternd zerfiel, spritzte auch die letzten Reste mit der Brause vom Wasser, und endlich schimmerte es grünlich klar und durchsichtig bis auf den Wannengrund. Zögernd begann das Kind zu lächeln, dann fuchtelte es und planschte laut. Unkontrollierte Bewegungen, diffuse Massen, schwer Begrenzbares, wolkenhafte Materie durften in ihrem Leben nicht sein. Waren ihr unerträglich. Ich hatte verstanden.
Jedoch. Für mich war das anders.
Meine Hand fühlte sich taub an, ich tropfte noch mal Jod darauf und wechselte das Pflaster, dann packte ich Lio ins Traggestell und ging in die Stadt. Vorher warf ich meine Messer, Spitzer, die harten und die Druckbleistifte, die Rapidographen, Scheren, Federn und Cutter in eine Schublade und schloss sie ab . Und wieder Grau verwischt in Grau, wolkige Flächen, türkisfarbene Flecken darin, currygelbe Flechten, nebelhaft verschwommen die rot-weiß-roten Wegmarkierungen im silbergrauen Stein. Langsam durchwanderte ich die Abteilungen und sammelte ein, was sich meinen Fingern anschmiegte, was meine Augen besänftigte und meiner Imagination aufhalf.
Feinste Pinsel mit dicken, weichen Marderhaarbüscheln, Farben, Tuschen, Kohlen, Kreiden. Biegsame Bögen Pergament, dicke holzhaltige Skizzenpapiere, durchscheinendes Kalligrafiepapier (in einem Kaufhaus flirtete ich der Kassiererin in der Haushaltsabteilung einen dicken Stoß des Papiers ab, in das sie Glas- und Porzellanwaren einwickelte). Alles würde anders werden. Die weiche Kinderhaut, die seidigen Büschel schwarzen Haars, Cremes und Puder, Samtanzüge und weiche Vliese, lockeres Windelgewebe, raschelndes Seidenpapier und das dunkle Schimmern in Josefines Stimme. Schmierige Fingerfarben, einen ganzen Kasten Aquarellfarben, noch mehr Pinsel, die weichsten Bleistifte, Reißkohlen, dicke Zimmermannsstifte und ölhaltige klebrige Stempelkissen, üppige Wachsmalkreiden, dicke Filzstifte. So müsste es gehen.
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Es begann in der linken unteren Ecke eines quer liegenden Kartons, auf dem noch das Absenderetikett der Stiftung für cerebral gelähmte Kinder klebte, von der ich Sabberlätze, Betteinlagen, Windeln und Matratzenschoner bezog. Ich grundierte mit wässrigem Weiß. In fahrigen Strichen huschte der Pinsel über den milchigen Untergrund, ich strichelte dicke Schnürstiefel hin, Springerstiefel, wie Punks sie trugen, aus denen magere Waden wuchsen und am abgewetzten Saum eines Regenmantels endeten. Der übergroße Mantel mit Schulterklappen und Pattentaschen umhüllte eine magere Frauensperson, die der eng gezurrte Gürtel in zwei ungleiche Hälften teilte. Hochgezogene Schultern, Fäuste in den Manteltaschen vergraben. Aus dem hochgestellten Kragen wuchs in unruhigem Strich das überlange Rohr eines Halses, auf dem das Dreieck ihres Gesichts stand; die Augen eine Wellenlinie mit von schweren Lidern verhängtem Blick, hakenartig die Nase, ein zum Punkt geronnener Mund betonte das Vogelartige der Erscheinung. Ponyfransen hingen unter dem Kopftüchlein hervor, an den Seiten staken zwei geflochtene Zöpfe, dünn und fest wie Drahtseile. Aus der Armbeuge wuchs der Stiel einer Sense, die Klinge schwebte über ihrem Kopf wie ein Fallmesser. Ich strichelte und wischte, schwärzte und rieb. Dann fixierte ich mit Haarspray und pinnte Paules Porträt an die Wand und warf das Japanmesser so lange nach ihr, bis es in ihrem Mund stecken blieb.
In jährlichen Abständen schrieb sie an Lio ihre Postkarten mit belanglosen Geburtstagsgrüßen von den Rändern des Kontinents, aus den Küstenorten, in denen sie sich aufhielt. Meist war das Meer darauf zu sehen, blühende Büsche Bougainvilleen, Oleander, Hortensien, Zypressen, ein ziegelrot gedecktes Dach oder graue Steinhäuser, eine Palme, Begrenzungshecken irischer Felder. Paule trieb von der Pointe du Raz nach Port Bou, von Finistère nach Antalya nach Sagres nach Odessa, von Aberdeen nach Palermo, und ich fragte mich mehr als einmal, ob ihr Weg über das Festland sie nicht durch Zürich führte. Tagsüber dachte ich nur noch selten an sie, nachts jedoch konnte es geschehen, dass ich mich
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