Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
Vom Netzwerk:
und lächelte über die Schulter, auf der der dicke Haarbusch lag, der nicht aus menschlichem Haar bestand, wie ich jetzt sah, sondern aus sehr vielen knisternden Schichten einer Folie, die dünner als Papier war, biegsamer auch, dabei zäh und durchscheinend weiß, fast klar, ich sah die blätterteigartige Schichtung dieser Haardecke und erkannte auf einmal, dass es Eihäute waren, diese hauchdünnen Schichten, die das gummiartige Weiße des gekochten Eis mit der splittrigen Kalkschale verbunden hielten. Und sich unter dem Schock des kalten Wassers lösten, der mir jetzt über den Rücken rann, als die Frau mir ein Lächeln schenkte und ihre hellen angespitzten Zähne zeigte. Nicht die Eihäute, nicht die abgeschliffenen Zähne, nicht das Grinsen jagten mir diesen Schreck ein, sondern die Erkenntnis, dass ich in mein eigenes Gesicht sah. Ich schloss die Augen. Doch dann erkannte ich die Brauenborsten, die auf der Nasenwurzel wirbelten, den Schneidezahn mit der abgebrochenen Ecke und die Narbe auf der Stirn vom Fahrradsturz auf dem Weg zur Schule. Hatte ich tatsächlich so tiefe Magenfalten, war meine Unterlippe so viel breiter als die Oberlippe und die Furche, die zur Nase führte, so unscheinbar flach? Das war ich selbst als alter geschlechtsloser Mensch. Das war nicht ich, nicht der, der ich jetzt war, als der ich mich verstand. Ich befühlte mit der Zunge meinen Schneidezahn. Ich schloss die Augen. Fetzenweise drangen Worte an mein Ohr in einer unverständlichen Sprache, nur ein Wort, Kolograbsi, kannte ich. Lio. Ich öffnete die Augen. Ich blutete aus der aufgeschlagenen Lippe und einer Schürfwunde an der Stirn. Ich war gestürzt und hatte mir am harten Granit den Kopf angeschlagen. Die Frau war weg. Ich betastete mein Gesicht, wischte mit dem Hemdzipfel das Blut weg, legte die Hände vor die Augen, verfluchte die unbedachte Aktion, in der ich meine Habe weggeschmissen hatte, doch wie anders hätte ich das Loch, diese Leere, füllen sollen, wenn nicht mit all dem, was ich besaß?
    Das Bild der Gestalt hinter meinen Lidern war verschwommen, und zurück blieb ein helles Weiß, nicht hochweiß wie die sonnenbeschienene Schneefläche, sondern cremefarben wie ein Ziegenfell aus Schlagrahm. Auch als ich die Augen wieder öffnete, blieb die Frau verschwunden, doch jedes Mal, wenn ich künftig die Augen schloss, war da nicht das sänftigende Dunkel der selbst gemachten Nacht, sondern das blendende Weiß ihrer Haardecke aus Eihäuten. Das Augenschließen wurde mir von da an zum Problem, zuerst nur, wenn ich schlafen wollte, dann sogar das Blinzeln. Ich musste Schlaftabletten, kleine bittere Kalkkiesel, schlucken und mit geöffneten Augen im Bett liegen, bis mir das metabolisierte Valium die Lider schloss und mich umstandslos in den Schlaf drückte, während es vor der blendenden Helligkeit, in die mich das Blinzeln stürzte, kein Entrinnen gab und ich es tagsüber immer öfter vermied, die Augen zu schließen, sodass mein Blick etwas Starres, Stierendes, gleichzeitig Abwesendes, Verschwommenes bekam, als lägen die Augen eine Handbreit unter der Oberfläche eines Teichs – das sagte jedenfalls Josefine, als wir uns lange Zeit darauf wiedersahen, und auch, dass es ihr unheimlich war, bis ich ihr sagte, dass es eine Folge der künstlichen Tränen war, die ich mir verschreiben ließ und in jedem unbeobachteten Augenblick in die Augen tropfte.
    Sehr viel Blut, ein brennender Schmerz, heißes Stechen. Ich war mit dem Japanmesser ausgeglitten und hatte mir tief in den Handballen geschnitten. »Rolumenäkolograbsirolomänokunirabsititzenbenakoliograbulolo …«, und so fort. Das Kind drückte lange Würste Deckweiß aus der Tube, verrieb sie auf dem Holz, schmierte sie in die Ritzen, verteilte sie, mit Speichel angereichert, über Haar und Gesicht und erzählte sich fortwährend, was es tat. Endlose Liomonologe, unbekannte Wortfolgen und Silbenreihen, die minimal music meines Vaterdaseins, Hintergrundgeräusch meines Lebens, dessen ich nur noch gewahr wurde, wenn Leute uns beobachteten, leise miteinander sprachen und im Weggehen über die Schulter nach uns sahen. Ich lief ins Bad, stellte das Badewasser an, desinfizierte und verpflasterte die Wunde, griff dann Lio unter die Achseln und trug sie ins Bad.
    Ein dicker grüner Schwall Duschgel sprang in die Wanne und blähte sich zu einem Schaumberg auf. Lio jammerte, streckte die nackten Arme und Beine, weinte dicke Tränen, als ich sie ins Wasser setzen wollte. Ich prüfte die

Weitere Kostenlose Bücher