Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
anrief. Wir würden zu Hause besucht, ein Mitarbeiter vom Verein Schtärneglanz käme vorbei, und wir vereinbarten einen Termin. Bauchladen auf und zu. Aufklappen und wieder zu. Wie der billige Jakob auf Klinkenputztour packte ich mein Angebot an finanziellen, nervlichen und existenziellen Zwangslagen aus vor einer jungen Frau mit sehr hoch gebundenem blondem Pferdeschwanz, die einen babyrosa Stift zwischen den pinkfarben lackierten Fingernägeln drehte und ein mehrseitiges Formular ausfüllte. Unter den blonden Strähnen ihres Haars blinkte die Kopfhaut hindurch, der straffe Zug spannte die Schläfen, zog die Brauen nach oben und die Augen auseinander. Ich beobachtete, wie ihre Lider sich schlossen, zeitlupenlangsam gegen den Zug des Gummibands auf ihrem Oberkopf. Josefines Hand, die das dicke Haargummi fasst und es langsam bis auf die Schulter herunterzieht. Das nur noch an den Spitzen zusammengehaltene Haar plustert sich auf, plötzlich vom Zug des straffenden Bands gelöst, springt es in Wellen auf, schäumt und bauscht sich um ihr Gesicht, das sich jetzt, als sie den Kopf senkt und den Büstenhalter aufhakt, unter der braunen Wolke verschwindet. Sie lässt die Träger des Büstenhalters über die Arme nach unten gleiten, hebt den Kopf und steht da im Gegenlicht, eine dunkle Schattenlinie umläuft ihre Gestalt, die fremd ist auf einmal, da verändert in den Proportionen, mit riesigem Kopf und schmalem Körper, da nackt. Ein helles, flächiges Frauenwesen vor der weißen Wand, akzentuiert nur durch die dunklen Flecken der Augen, der Brustwarzen, des Nabels, des Haarbuschs.
»… mich bei Ihnen in den nächsten Tagen melden.« Die blondrosa Dame vom Verein Schtärneglanz öffnete ihre Tasche und legte eine Broschüre auf den Tisch. Sie werde sich nach einer geeigneten Pflegeperson für Lio umsehen und mir Bescheid geben, sobald sie jemanden gefunden habe. Falls die neuen Eltern oder Großeltern mir nicht zusagten, wäre das kein Problem, dann würde sie nach anderen Freiwilligen suchen. Mitgliedschaft im Verein. Vierzig Franken pro Jahr. Einzige Bedingung. Sie roch seltsam. Nach Himbeeren und nach etwas Künstlichem. Erleichtert schloss ich die Tür hinter ihr, ging zurück in die Küche, und da wusste ich, was es war. Latex. Sie roch nach Himbeeren und Latex. Ich räumte die Küche auf und warf die Broschüre des Vereins ins Altpapier.
Winzige frische Tropfen fielen auf den steilen Waldweg vom Bahnhof hinauf in das kleine Appenzeller Dorf, in dem das Ehepaar Häfliger wohnte. Lio hockte im Traggestell, wischte mit den gepolsterten Sternenhänden auf meinem Kopf herum und sang eine endlose Melodie. Eine schweifende Tonfolge, die sich nicht wiederholte, keinem musikalischen Gesetz gehorchte, sondern sich wie die Horizontlinie der Landschaft hob und senkte, sich formte und auflöste, schroffe Sprünge machte, sanfte Gefälle und Steigungen nachbildete, eintönige Ebenen durchschritt, um sich irgendwo im Dunst einer Regenwolke zu verlieren.
Eine kleine, drahtige Person öffnete die Tür und bat uns in einen schimmlig riechenden Flur. Als ich, wie Frau Häfliger es verlangte, die Schuhe auszog, stolperte ich über einen Teddybären, der vor einer Spiegelkonsole saß. Ich folgte Lios künftiger Pflegemutter eine enge Holztreppe hinauf in die Küche, die von weiteren Teddybären bevölkert war. Teddybären auf der Tapete, auf den Henkeltassen, den Kuchentellern, den Papierservietten. Berühmte und unbekannte Bärengestalten, die üblichen Protagonisten der Spielwarenindustrie und des Kinderbuchmarkts. Puh und Paddington, Roosevelt, Steiff, der »Kleine Bär« in allen Erscheinungsarten. Aus Porzellan, Steingut, Glas, als Teekannen, Gipsfiguren, Leder- und Stofffiguren, Bären aus Swarovskikristall, Bärenkerzen aus Bienenwachs, Blech- und Jadebären, Plastik- und Goldbären, Schokoladenbären, Marzipanbären, Lebkuchen- und Salzteigbären. Selbst der Beerenkuchen war in einem bärenförmigen Blech gebacken worden. Herr Häfliger saß am Küchentisch in einem Ohrensessel und hob zur Begrüßung nachlässig die Hand. Wir stocherten im Kuchen und machten Konversation. Auf meine Frage nach eigenen Kindern gaben sie freimütig bekannt, sie hätten vier, doch sei zu allen vieren und zu den Enkelkindern der Kontakt abgerissen. Häfliger saß stumm dabei und belauerte meine Reaktion. Lio stank. Nach einer kurzen Diskussion, wessen Aufgabe das jetzt sei, führte er mich in das enge, überheizte Badezimmer und blieb nah bei mir
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