Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
die oberen Stockwerke. Waschräume, fensterlos und voll gekachelt, ohne Duschvorhänge, Fußmatten und Tageslicht. Aus Gerechtigkeitsgründen gebe es für alle die gleichen Zahnbürsten, Zahnbecher und Waschutensilien. Damit kein Neid entstünde. Die Zweierzimmer, in denen die »Chinde« schliefen, waren penibel sauber und aufgeräumt. Zu aufgeräumt, dachte ich, und mir fiel die Schlamperei in unserer Wohnung ein. Zuerst dachte ich, Schläpfer hätte uns nur unbelegte Zimmer gezeigt, bis ich aus einem der Betten den Zipfel eines Pyjamas hervorschauen sah, was auch Schläpfer auffiel und ihn veranlasste, den hellblauen Zipfel aus Frotteestoff sofort unter die akkurat gefaltete Bettdecke zu schieben. Als er sie anhob, sah ich die Gurte. Heimlich, in seinem Rücken, inspizierte ich die anderen, und unter allen Decken fand ich in der Mitte des Bettes die breiten weißen Gurte mit Lochreihe, an einigen auch schmalere an den Betträndern.
Ob alle »Chinde« nachts fixiert würden, wollte ich wissen.
»Nicht alle, bei einem Teil sind sie nur zur Sicherheit da. Für den Fall, Sie verstehen.« Und lachte herzlich.
»Nein«, sagte ich, »das verstehe ich nicht.« Ich sah ihm starr in die Augen, und da lachte er wieder. Im Nebengebäude seien die Therapie- und Aufenthaltsräume, wir folgten ihm, das heißt, ich folgte ihm, Lio konnte nicht Schritt halten, und so klemmte ich sie mir auf die Hüfte. Als wir in die Küche kamen, saß da ein Mädchen mit schwarzen Haaren und schmalen Augen vor einem Glas mit roter Flüssigkeit und einem Teller mit Apfelschnitzen. Sie schaute nach uns und stieß dabei an ihr Glas, es fiel um, sein Inhalt lief über den Tisch.
»Jetzt musst du das aufwischen«, sagte die Betreuerin, die Schläpfer Schwester Monika nannte, und ruckte am Stuhl des Mädchens, das sich gehorsam erhob und zum Spülbecken trat, wo es nicht mehr weiterwusste.
»Nimm den Lappen.« Monika schob das Kind noch einen halben Schritt vorwärts. Es nahm den Lappen, ging zum Tisch zurück und wischte in der rötlichen Flüssigkeit herum, die sich jetzt bis an die Tischkanten ausbreitete und darüber hinablief. Es plitschte leise.
»Aufwischen, hab ich gesagt, nicht auf den Boden wischen.« Schwester Monika wirkte ungehalten. Das Mädchen murrte ein wenig, zog dann die Stühle weg und kroch unter den Tisch.
»Ist dieser Lappen der richtige für den Boden, Colli?«, fragte Monika. Colli warf den Lappen unter dem Tisch hervor, er klatschte auf Monikas Gesundheitsschuhe. Da griff die Betreuerin unter den Tisch und zog das Mädchen an einem seiner dünnen Arme hervor.
»Geh auf dein Zimmer.« Colli trottete davon. Schläpfer lachte wieder und bat uns, ihm ins Untergeschoss zu folgen, wo die Therapieräume seien. Er klopfte an eine der Türen, horchte, zog einen großen Schlüsselbund aus der Hosentasche und schloss auf. Der Raum war angefüllt mit bunten Plastikkugeln von der Größe eines Tennisballs, ein knietiefes klackerndes Bad, in dem sich mehrere Menschen suhlten. Sie lachten und machten unartikulierte Geräusche. Ab und zu bewegte sich einer ruckartig, und eine Welle ging durch die vielfarbige Masse. Breite Fenster gaben den Blick in den Garten frei. Draußen sprang der Hund frei herum. Lio stand da und schaute. Schläpfer forderte sie auf, ins bunte Bad zu steigen, doch sie sah erstarrt auf das mannsgroße Fellbündel, das sich im Gras wälzte. Wieder lachte Schläpfer, wobei er die Luft mit einem quiekenden Geräusch nach innen zog. Ich wandt mich zum Gehen, er sperrte sorgfältig die Tür hinter uns ab, und wir gingen durch den dunklen Gang zurück. Es roch nach feuchtem Beton und kaltem Essen. Den dummen Soldaten wurde an den einen Fuß Stroh, an den anderen Heu gebunden, damit sie rechts und links unterscheiden lernten. Als wir uns vor dem Blümchensofa mit dem starrgesichtigen Pierrot verabschiedeten, fiel mir der Buggy wieder ein, und ich bat Schläpfer ein Taxi rufen zu dürfen. Nach einigem Hin und Her erklärte sich die Vermittlerin bereit den Taxifahrer ausfindig zu machen, der uns hergebracht hatte. Auf dem Weg durch den Garten nahm ich Lio auf den Arm. Feierabendverkehr, Stau, es begann zu regnen. Überfüllte S-Bahn, überfüllte Trambahn. Als wir zu Hause ankamen, weinte Lio leise in meine Schulter, und ich hätte am liebsten mitgeweint.
Es gebe einen Verein, der überforderten Eltern in Notsituationen helfe, hatte der Sozialberater gesagt und mir eine Telefonnummer angegeben, bei der ich anderntags
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