Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
stehen, um den Wickelvorgang zu beobachten. Schließlich müsse er das alles wieder lernen. Er lachte und fasste sich in den Schritt. Auf dem Rückweg durchs Wohnzimmer stolperte ich über die Plüschbärensammlung vor der Schiebetür zur Küche. Frau Häfliger nahm einen Block hervor und las einen Fragenkatalog vor, an dem wir uns so lange gemeinsam abarbeiteten, bis die Wanduhr die volle Stunde schlug und aus dem Zifferblatt ein Bär hervorsprang, begleitet von einem Brummgeräusch.
Kleine frische Tropfen im Gesicht, als ich den Steilweg zur Bahnstation hinunterstieg, etwas zu schnell vielleicht, denn ich rutschte auf dem nassen Herbstlaub aus und setzte mich auf den Hintern. Lio in der Trage verstummte, dann sang sie weiter. Das Klicken der Tropfen auf der roten Schmalspurbahn, das Knistern der jetzt fallenden Hagelkörner, dann ein Donnergrollen weit entfernt. Fluchtartig war ich durch den schimmligen Gang geeilt, mit offenen Schnürsenkeln losgelaufen, im Laufschritt bergab zur Bahnstation. Eine dreckig graue Wolkendecke lastete während der Fahrt über der Landschaft, doch kurz vor der Einfahrt in den Zürcher Hauptbahnhof riss sie auf und gab einen Streifen weißlich gelben Himmels frei. Erleichterte Leere, Taubheit in Händen und Zehen, Ratlosigkeit. Wie ein ausgeleiertes Gummiband löste sich die Anspannung, wurde schlaff und hing durch. Das Kind anderen Händen überlassen. Es weggeben, es jemandem anvertrauen. Bei uns im Zug saß ein Paar in praktischen schwarzen Regenhosen, Wanderstiefeln und roten Anoraks. »Das tust du immer«, sagte die Frau mit einer hohen Stimme, die aus der Nase zu kommen schien. »Immer tust du die Körner rein.« Er antwortete etwas, das ich nicht verstand, denn der Zug schlängelte sich über Weichen in das vorbestimmte Ankunftsgleis, Bremsen quietschten und es kam die Lautsprecherdurchsage viersprachig, man erreiche Zürich in wenigen Minuten, Danke und Auf Wiedersehen. Das Gummiband lösen. Dunkles Haar in wilder Offenheit, ein entfesselter Busch, darunter halb verborgen ihr Gesicht. Josefine. Ich werde zu ihr gehen.
Die blonde Schtärneglanzlady meinte am Telefon, wenn mir die Häfliger nicht passten, wenn ich ihr Angebot nicht annehmen wollte, könnte sie auch nichts mehr für mich tun. Ich legte auf und wählte die Nummer des Hauses Espoir, um bei Schläpfer die Anmeldeformulare zu bestellen. Noch reichte meine Kraft ein Stückchen weiter. Noch hatte ich eine kleine Reserve übrig. Zanotta schickte mich zum Arbeitsamt, wo mich ein Vermittler, der aussah, als wäre er am Wochenende zu lange auf dem Rave und unter dem Einfluss diverser Substanzen gewesen, mit Stellenangeboten für technische Zeichner, Grafiker und visuelle Gestalter versorgte, wobei er meinte, er gäbe mir genau vier Wochen Zeit, eine Stelle zu finden, dann könne ich mich durchaus auch für eine Arbeit in der Reinigung, der Gastronomie oder im Sicherheitsdienst bewerben. Ich nahm das hin und ging.
Der Eurocity schob sich am Ufer des Bodensees entlang und über den Damm auf die Lindauer Insel, wo er mit zwei Dieselloks verkuppelt wurde, während ich aus dem Fenster sah und mir Josefine vorstellte. Wie sie die Tür öffnete und mich ansah. Dann war da nichts mehr. Nur helles Morgenlicht hinter durchscheinenden, von einem Windhauch geblähten Gardinen.
Die sanften Schwingungen des Allgäu, in Buchloe überlegte ich zum letzten Mal, auszusteigen und umzukehren. Josefine hatte keine Ahnung, dass ich kommen würde. Schon stand ich in der Querhalle des Kopfbahnhofs, kaufte Blumen, verließ das Gebäude, bestieg ein Taxi, das kein schwarzer Hüne, sondern ein zartgliedriger Türke mit Wunderbaum am Rückspiegel fuhr, er brachte mich durchs Bahnhofsviertel an der Theresienwiese vorbei und über Kopfsteinpflaster eine lindenbestandene stille Straße hinab zu Josefines Haus.
Sie öffnete die Tür und schien nicht überrascht, mich zu sehen. Eine zerstreute Offenheit im Gesicht, ihren fahrigen Bewegungen entnahm ich, dass sie aufgeregt war. Überrumpelt. Nach dem ersten Kaffee bot ich an, wieder zu gehen, doch sie wollte, dass ich blieb.
Weißes Licht hinter dunklen Gardinen. Wir lagen drei Tage und Nächte im Halbschatten beieinander, und endlich kamen die Worte wieder. Wir erzählten uns Geschichten.
26
Auf die blassen Zuckerdinger beißen und sie fein vermahlen. Mit viel Spucke runterschlucken. Ich blinzelte durch das Spinnwebgeflecht der Wimpernkränze in den Sommernachmittag, um mich fluteten die
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