Atmen – ein lebendiges Geschehen (Gralsverlag Ratgeber)
zunächst einmal ganz überrascht, daß die Atembewegung sofort und uneingeschränkt im Bauch zu spüren ist, obwohl die Lähmung in diesem Bereich ja bereits vorhanden ist. Ich arbeite lange an der Lendenwirbelsäule, am Kreuzbein und an den Beinen und Füßen, bewege diese, dehne, gebe Druck. Kaum kann ich es fassen: Zum Schluß spüre ich in beiden Füßen die feinen Ausläufer der Atembewegung. Sie selbst sagt, daß sie ein wenig den rechten Oberschenkel spüre, und links sei es, als ob etwas ganz Zartes durch das Bein ströme.
In der Zeit bis zur nächsten Einzelstunde ergreift sie selbst Initiative: Sie legt eine Hand auf das Knie, die andere unter die Fußsohle, und versucht, die räumliche Ausdehnung zu erfassen. Inzwischen spürt sie das Gewicht ihrer Beine und auch die untere Begrenzung durch die Füße.
Ein Erlebnis mit ihr hat mich ganz besonders bewegt: Ich behandle sie und spüre, wie sie innerlich ganz stark mitarbeitet und beteiligt ist. Auf einmal kommt mir der Gedanke, wie viele Menschen ich schon „unter den Händen“ hatte, die einen schönen und gleichmäßigen Körper besitzen, von dem jedoch kaum etwas ausgeht, der kaum belebt erscheint, fest und unbewegt ist. Und hier, in diesem Fall, kommt mir plötzlich eine innere Wärme, eine Intensität, eine Schwingung entgegen, die von großer Lebendigkeit zeugt und den Körper durchdringt, obwohl ganz entscheidende Funktionen ausgefallen sind.
Hier wird mir zum ersten Mal im wahrsten Wortsinn „greifbar“ klar, was es bedeutet, daß der Geist den Körper belebt.
4. Sogenannt Geistigbehinderte
Nachdem der Begriff „Geist“ bereits zu Anfang dieses Buches erklärt wurde, wird Ihnen das „sogenannt“ vor dem Wort „Geistigbehindert“ einleuchten. Der Menschengeist an sich kann nicht erkranken, wohl aber seine Umhüllungen, die wir selbst durch unser Verhalten belasten. Und so ist mit geistigbehindert in Wirklichkeit die Erkrankung des Gehirns gemeint, also eines Körper-Teiles. Die Erkrankung läßt nicht mehr zu, daß sich der Geist uneingeschränkt durch seinen Körper betätigen kann.
Ein Elternpaar wandte sich in seiner Not an mich. Die beiden haben eine 22jährige Tochter, die unter dem RETT-Syndrom leidet. Laut Aussage der Ärzte wäre sie in ihrem Alter mit dieser Krankheit, die auch eine fortschreitende Hirnathrophie mit sich bringt, gar nicht mehr lebensfähig.
Die Eltern hegen eine tiefe Zuneigung für ihre Tochter und lassen keinen Weg unversucht, um ihr zu helfen. Ich sage, daß ich keinerlei Erfahrung hätte mit dieser Art von Behinderung, aber daß sie gern einmal vorbeikommen dürften.
Die erste Stunde dient der gegenseitigen Annäherung. Ich glaube, wir mögen uns beide, und die Eltern sind erstaunt, daß sie sich von mir sehr bald anfassen läßt.
Beim nächsten Mal spielen wir mit ihrem Teddy. Ich behandle ihre Füße, die starke Durchblutungsstörungen aufweisen, und beobachte, wie sie sekundenlang den Atem anhält und den Kopf zurückbäumt – der Bauch wölbt sich dabei stark nach außen –, und dann entläßt sie den Atem mit einem tiefen Seufzer. Dieses Verhalten beunruhigt die Eltern. Ich nehme dagegen wahr, daß dieser aufgestaute Druck der Versuch ist, sich zu äußern, was ihr jedoch nicht gelingt, und daß der anschließende Seufzer eine Entlastung von diesem Druck ist. Ich finde nichts Beunruhigendes daran und kann auch den Eltern die Sorge nehmen durch das Verständnis für den Vorgang.
Noch einmal besuche ich sie und arbeite mit ihr, und zwar in dem Heim, in dem sie tagsüber untergebracht ist. Dort arbeitet sie auch mit einer Intensivbetreuerin und einer Logopädin. Beiden zeige ich, wie ich mit ihr arbeite. Sie selbst kann natürlich nicht bewußt mitarbeiten, reagiert aber erstaunlich mit Reflexen. Wenn ich ihr die Hand mit einem leichten Druck nach unten auf das Kreuzbein lege, fließt der Atem sehr bald nach unten, und nach einer Weile kommt der Reflex sich aufzurichten. Normalerweise sitzt sie sehr zusammengesunken.
Oftmals läuft ihr auch der Speichel unkontrolliert aus dem Mund. Wenn ich sie an den Füßen behandle, beginnt sie allmählich, den Speichel einzusaugen, bewegt die Lippen, die einen neuen, guten Tonus bekommen – und hört dann ganz auf zu speicheln. Man spürt, sie fühlt sich wohl.
So gilt es immer, zu jedem Menschen einen neuen Zugang zu finden. Dazu muß manches Alte und Erlernte zurückgelassen, neue Wege müssen eingeschlagen werden.
Erfahrungsberichte aus der
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