Atmen – ein lebendiges Geschehen (Gralsverlag Ratgeber)
zu lassen und gebe ihr konkrete Hinweise, was sie untersuchen lassen soll: Kopf mit Nerven und Gefäßen, Leber, Darm, Wirbelsäule, besonders Halswirbelsäule. Es stellt sich u. a. eine schwere Darmstörung heraus und natürlich eine große Belastung der Leber durch die Medikamente. Beide Organe werden nun ärztlich behandelt.
Erfahrungsgemäß äußern sich Darm- und Leberbeschwerden häufig in Migräneanfällen. Vom Atemgeschehen und Körpertonus her spüre ich es als eine Art Rückstau im Kopf. Frau D. geht mit viel Hoffnung und dem ehrlichen Wunsch, etwas zu verändern, aus der ersten Stunde fort. Das ist natürlich eine ideale Grundlage für die weitere Arbeit, auf die man normalerweise nicht so häufig trifft. Sie scheint alles, worüber wir sprechen, aufzusaugen wie ein Schwamm. Ein Thema nimmt besonders Raum ein in der Behandlung: ihr übergroßer Perfektionszwang, welcher sie und ihr Leben bestimmt und sich auch körperlich ausdrückt. – Sie versucht nun, manches im Alltag anders zu machen.
Wir arbeiten zunächst nur daran, sich zu lösen und nachzugeben, besonders im gesamten Rücken-, Schulter-, Nacken- und Kopfbereich. Auch vom Körper her ist die große Sehnsucht zu verspüren, etwas zu verändern, so, als ob er nur noch darauf gewartet habe, daß man ihm zeigt, wie er sich lösen kann. Denn das hat er im Laufe vieler Jahre der Anspannung und des Festhaltens verlernt.
Nach ganz kurzer Zeit tritt bei Frau D. bereits Besserung ein. Der Atem kann sich im Rücken schon ein wenig ausbreiten und fließen.
In der letzten Einzelstunde sagt sie, sie habe seit drei Wochen keine Schmerzen mehr gehabt, nur einmal ein leichtes Druckgefühl. Ihr Aussehen ist völlig verändert, die Gesichtsfarbe frisch, die Augen stehen nicht mehr unter Druck und wirken lebendig.
Sie selbst kann diese Veränderung kaum fassen und ist noch ein wenig skeptisch. Und auch für mich ist diese starke Verbesserung ein großer Glücksfall, der wahrhaftig nicht alle Tage vorkommt und mir sehr viel Freude bereitet.
4.
Seit über einem Jahr kommt Frau E. regelmäßig einmal die Woche zu mir. Sie ist in ihrem Beruf, der sehr viel mit Menschen zu tun hat, recht erfolgreich. Seit Jahren hat sie mit Heiserkeit zu tun und schon so manches dagegen zu unternehmen versucht, bisher ohne Erfolg. Immer wieder gibt es auch Situationen, in denen die Stimme ganz versagt. Selbst als Therapeutin arbeitend, auf die Sprache und die Stimme besonders angewiesen als Verständigungs- und Ausdrucksmittel, entwickelt sich zwischen uns ein ungeschriebenes Gesetz: Wir sprechen kaum, nur das Notwendigste, lassen ihren Körper sprechen, ihren Atem und schließlich auch ihre Stimme. Es ist wie eine unausgesprochene Bitte ihrerseits, ein Signal, vielleicht unbewußt. Denn sie zeigt sich im Grunde eher zurückhaltend in ihrem Wesen und überschreitet diese Grenze offensichtlich ständig in ihrem Beruf, was sie auf die Dauer natürlich anstrengt und auch überfordert.
Die Behandlungen offenbaren viel, was sie vielleicht niemals verbal auszudrücken vermocht hätte. Im Beckenbereich ist zu Beginn kaum Atembewegung zu verspüren, das Zwerchfell zeigt einen Hochstand, die Übergänge zwischen Kreuzbein und Lendenwirbelsäule sowie Brustwirbelsäule und Halswirbelsäule weisen starke Anspannungen und Blockierungen auf, die sich nach vorne als Druck fortsetzen, nämlich im Bauchraum und in der Kehle. Während der Behandlungen kompensiert sie ihren Überdruck, indem sie häufig wegsackt und hin und wieder auch einschläft.
Sehr lange vermeide ich es, mit der Stimme zu arbeiten; ich versuche, viel zu lösen, bis die Körperwände allmählich nachgeben, ein körperliches Raumgefühl entsteht, in dem der Atem sich nun viel freier bewegen kann und ein Loslassen im Ausatem langsam möglich wird durch die Unterstützung meiner Hände. Die ersten Stimmversuche sind recht mühsam. Sie übt viel Druck aus, damit ein Ton hervorkommt, doch es wird nur ein Krächzen. Sie hat zwar die Lockerung ihres Körpers bereits erlebt, kann die Erfahrung jedoch noch nicht umsetzen, während sie spricht bzw. „tönt“. Vielmehr scheint sie ihren Körper während des Sprechvorganges abzutrennen. Nach einer Rückenbehandlung, in der sich sehr viel Spannung gelöst hatte, bitte ich sie, noch im Liegen, das kleine Wort „ja“ zu sagen. Zum ersten Mal höre ich einen vollen, wohlklingenden Ton von ihr.
Nachdem sich Kopf- und Nackenbereich sowie die Zwerchfellgegend mit den Rippenbögen immer
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