Atmen – ein lebendiges Geschehen (Gralsverlag Ratgeber)
mehr lockern und sie im ganzen zusehends durchlässiger wird, schließen wir die Behandlungen im Liegen ab und arbeiten weiterhin nur noch im Sitzen oder Stehen. Allmählich gelingt es ihr, die Bewußtheit ihres Körpers und des Atems mit einzubeziehen, und beides beginnt, ihre Stimme zu tragen. Besonders hilfreich für sie ist die Erfahrung der Gegenspannung im Körper während des „Tönens“. Wenn sie zum Beispiel ein „u“ erklingen läßt, spürt sie einerseits den hinausströmenden Ausatem mit Ton und andererseits die bewußte Verbindung zum Boden. Beides zusammen ergibt diese für den Ton so unterstützende Gegenspannung, gibt ihm Halt und Tragweite.
Allerdings versagt die Stimme noch, wenn sie ihre Wahrnehmung nach außen richtet. Solange sie sich und ihren Körper spürt, schwingt der Ton voll, will sie jedoch ihr Gegenüber erreichen, sich aus-drücken, entsteht Druck. Erst als wir spielerische Bewegungen dazunehmen, während sie spricht und tönt, kann sie allmählich den Ausatem, der ihren Ton trägt, hinauslassen. Die zu starke Achtsamkeit und Fixierung hört auf.
Unsere Arbeit wird immer spielerischer und läßt sie allmählich ihre Zurückhaltung verlieren. Das Sprechen wird selbstverständlicher mit der Erfahrung, daß ein Nach-außen-Gehen auch Freude und Spaß bereiten kann.
Im Alltag werden die Situationen, in denen die Stimme eingeschränkt ist, immer seltener. Wenn sie jedoch auftauchen, gilt es auch, ihre eigenen Grenzen anzuerkennen.
5.
Frau B. ist Berufsgeigerin, Anfang Vierzig und verzweifelt, weil sie wegen entzündlicher Prozesse und Versteifungen im Schulter-Armgelenk nicht mehr musizieren kann. Zunächst gilt es, sich mit dem Gedanken abzufinden, daß es im Moment nicht möglich ist, Geige zu spielen. Das fällt ihr sehr schwer. Sie wehrt sich noch lange dagegen. Doch die immer stärker werdenden Schmerzen zwingen sie bald dazu. Neben unserer Atemarbeit, die sie auf sehr feinen, inneren Ebenen erreicht, bekommt sie krankengymnastische Behandlungen, die eher auf die äußere, grobe Muskulatur wirken. Außerdem ist sie in Behandlung bei einem Arzt, der sich auf derartige Symptome bei Musikern spezialisiert hat.
Ihr gesamter Rücken- und Schulterbereich fühlt sich steinhart an. Aufgrund der starken Schmerzen arbeite ich nur mit einer sehr feinen Ansprache meiner Hände. Ihre innere Anwesenheit ist für das feine Durchlassen der Bewegung und des Atems besonders wichtig; glücklicherweise gelingt ihr das auch recht gut.
Nach vielen Behandlungen, in denen sich schon so manches verändert und entwickelt hat – zum Beispiel kann sich der Atem jetzt im oberen Rücken und den Schultern ausbreiten und gelöste, kleine Bewegungen sind ohne Schmerz möglich – bringt sie ihre Geige mit, um mir vorzuspielen. Ich sehe, daß sie sich in den Schultern hochzieht und beim Spielen nur Arme und Schultern benutzt, während der übrige Körper sich nicht mitbewegt und wie erstarrt erscheint. Sie hat keine Verbindung zum Boden. Wir üben Stehen. Sie erfährt, daß ohne die Verbindung zum Boden ein Loslassen in den Schultern niemals möglich ist. Und sie lernt, daß die Bewegung der Arme und der Schultern nichts Isoliertes ist, vielmehr über den ganzen Rücken läuft und schließlich als Bewegung den gesamten Körper erfaßt. Erst das gibt dem Atem Gelegenheit, sich auszubreiten und die Bewegung mitzutragen.
Am Ende dieser Stunde wirkt ihr Spiel viel freier. Sie übt vorsichtig weiter. Als sie die Behandlungen abschließt, kann sie ohne Schwierigkeiten zumindest wieder unterrichten.
Leider besuchte sie dann – für meine Begriffe zu früh – einen Geigerkongreß, durch den die fremdbestimmten, viel zu hohen Ansprüche sie wieder eingeholt haben.
Sie entschloß sich dann, eine Psychotherapie zu beginnen.
6.
Eine Geschäftsfrau, etwa fünfzig Jahre alt, sehr hohen Anforderungen ausgesetzt durch Beruf und Familie, sucht mich auf wegen schwerer Angstzustände, Schlafstörungen, Erstickungs- und Todesangst.
In der ersten Stunde zeigt sich der Atem unrhythmisch, zeitweise blockiert das Zwerchfell. Gegen Ende der Stunde lösen sich Spannungen durch Weinen. Doch während der Woche bis zur nächsten Behandlung tritt verstärkt Angst auf und die Frage: „Was passiert, wenn sich das Zwerchfell verkrampft? Kann ich dann ersticken?“
In der zweiten Behandlungsstunde hat sie ein wichtiges Erlebnis, das ihre Fragen beantwortet. Sie begreift den Vorgang des Atmens, der Zwerchfellbewegung und daß dieser
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