Auch das Paradies wirft Schatten
hervorgehoben. Trotz der Vermummung glitt Pedros Blick aber immer wieder zufrieden über das Geschöpf an seiner Seite.
Um ihr lockiges Haar hatte Marianne ein hauchdünnes Chiffontuch geschlungen. Tief atmete sie die reine Luft ein und blieb ab und zu stehen, wenn es im Gebüsch knackte oder ein Eichhörnchen vor ihnen im Geäst einer Fichte herumturnte.
Ehe sie auf eine Lichtung hinaustraten, hielt Pedro plötzlich an und faßte Marianne am Ärmel ihres Mantels. Zugleich legte er den Zeigefinger auf die Lippen und nickte nach vorn.
Lautlos schlüpften sie hinter einen dicken Baum. Ihnen gegenüber, auf der anderen Seite der Lichtung, entdeckte Marianne ein Reh, eine Ricke. Was eine Ricke war, nämlich ein weibliches Reh, wußte Marianne damals noch nicht, aber Pedro erklärte es ihr in einigen kurzen Worten, die er ihr ins Ohr hauchte. Dies geschah zu ihrem Vergnügen freilich, wie sie sich eingestehen mußte, weniger der Worte als des Hauches wegen.
Die Ricke äugte nach allen Seiten, sicherte; da aber der Wind ungünstig für sie stand, konnte sie keine Witterung nehmen und senkte deshalb beruhigt den Kopf, um die saftigen Spitzen der Gräser zu äsen. Zwischendurch hob sie immer wieder den Kopf und suchte mit ihren glänzenden Augen mißtrauisch die Waldränder ab. Langsam, Schritt für Schritt, näherte sie sich, während sie äste, den beiden Beobachtern.
Leise zogen sich Marianne und Pedro zurück und schlugen einen weiten Bogen um die Lichtung.
»Man soll das Wild nicht vergrämen«, erklärte ihr der Baron und blieb stehen. »Sehen Sie, wenn uns das Reh bemerkt hätte, wäre es sofort geflüchtet und hätte lange, vielleicht sogar für immer, diesen Platz gemieden. Die Tiere kennen die Gefahr durchaus, die ihnen vom Menschen droht.«
Sie gingen wieder weiter, schritten eine Weile stumm nebeneinander her, bahnten sich, Pedro voraus, einen Weg durch dichtes Unterholz, kletterten über einige kleine, bewaldete Hügel und kamen schließlich zu einem Abhang, dessen Fuß das Ufer eines kleinen Sees bildete. Verträumt, einsam, verlassen lag der See inmitten des Waldes. Das klare Wasser wurde von der Sonne bespiegelt, Gebüsch säumte das Ufer, und auf der gegenüberliegenden Seite erhoben sich wieder dicht bewaldete Hügel.
»Wunderschön«, sagte Marianne, die sich nicht sattsehen konnte. »Dieser Frieden! Diese Stille! Auch der See gehört Ihnen?«
»Ja«, sagte er. »Ich nenne ihn ›Das schlafende Mädchen‹. Ich habe ihn so getauft, weil er noch unberührt ist, jungfräulich inmitten einer prangenden Natur. Nur der Förster Recke kennt ihn genau … und ich.«
Er sah Marianne lächelnd an. Ihr kastanienbraunes Haar schimmerte in der Sonne. Das schöne Gesicht war ein wenig zur Seite geneigt. Leise atmend hob und senkte sich ihre Brust.
»Wunderschön«, sagte sie wieder, den Blick auf den See, über dem Libellen tanzten, gerichtet.
Pedro faßte sie an der Hand. »Kommen Sie, ich habe Ihnen noch etwas zu zeigen, ein Geheimnis. Sie müssen mir aber versprechen, es für sich zu behalten.«
Sie nickte.
Wie hatte doch Siegurd gesagt? ›Du darfst unser Geheimnis nicht verraten, kleines Mädchen. Wenn man sich liebt, muß man das ganz tief im Herzen behalten.‹
Wenn man sich liebt …
Liebte sie Siegurd wirklich? Liebte sie ihn, weil sie sich von ihm hatte küssen lassen? Weil sie seine Küsse erwidert hatte?
Oder konnte sie diesen großen Mann neben sich lieben, der so ganz anders war als sein Bruder, so ehrlich, so tief mit der Natur verbunden, so klar wie der See, der zu ihren Füßen lag?
»Kommen Sie«, sagte Pedro noch einmal, als sie versunken dastand und den Eindruck erweckte, als ob sie sich nicht in Bewegung setzen wollte, »es ist nicht weit.«
Er führte sie ganz hinunter ans Ufer, stützte sie, machte sie auf Stolperstellen aufmerksam. Jedesmal, wenn seine starken Finger an ihrem Arm fester zugriffen, um ihr Halt zu verleihen, durchströmte es Marianne, und sie verspürte den Wunsch, ihn zu umfangen, sich an seinen Hals zu hängen und sich in ihrer Gänze von ihm tragen zu lassen … immer … bis ans Ende der Welt.
Nur ein schmaler Pfad, der sich rasch verengte, führte um das Wasser herum. Pedro mußte nun vorausgehen. Er bog die in den Weg hineinragenden Zweige der Büsche zur Seite, Marianne diese lästige Arbeit ersparend, und strebte einem dichten Tannenwald entgegen. Schließlich wurde der Pfad wieder etwas breiter, das Ufer schien in den Wald hineinzuwachsen, es wurde
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