Auch Deutsche unter den Opfern
Interdisziplinäre Co-Produktionen, die keine Kunstkacke ergeben: selten. Campino kann ein Lied davon singen, ein ernstes Duett mit einer Nestroypreisträgerin – und die Tiefe kommt dann automatisch, oder was? Brandauer, Wenders – und die Documenta wartet schon? Hochkultur als Missverständnis. Macht ihr mal, da oben, wir schwofen so lang hier unten, feiern die Perfektion dessen, was Pop zu leisten imstande ist: »It’s a glamorous world«, intoniert so verzweifelt undschwärmerisch, so affirmativ wie beleidigend – es ist die Berlinale-Übersetzung von »Wir wählen selbstverständlich weiter SPD«.
März
Die Wettermaus morgens im Fernsehen hatte vor lauter grauen Wolken gestanden, aber alles Quatsch: Frühling in Berlin. Ich pumpte meine Fahrradreifen auf und fuhr zu dem Plattenladen, den ich als meinen bezeichnen würde, eine Nick-Hornby-Bude mit sehr nettem Hippieverkäufer. Stimmung dort bestens, gerade hat der Postbote einen Karton »Astral Weeks« von Van Morrison geliefert, Vinyl natürlich! Ein Stammkunde will sie direkt mal anfassen, betasten, schätzen – sind es auch wirklich 180 Gramm? Andacht wie an einer Fleischtheke. Ganz andere Frage, die Herren: Wie klingt denn diese Platte? »Sicher«, sagt mein Hippie, »so ganz die Stimme hat er nicht mehr. Ist aber schon groß.« Mal die anderen Neuheiten durchfingern. Empfehlungen sind hier noch ernst gemeint, was bedeutet, dass auch mal abgeraten wird: Die neue Razorlight? Nicht so gut. James? Nicht so wirklich. U2? Wenn man deren frühe Platten mag. Also auch nicht. Was aber dann? Phantom Band vielleicht, sagt mein Hippie. Die seien »wie Mogwai mit Gesang, eher noch melodischer«. Im Hintergrund quält sich Van Morrison durchs Konzert, allerdings: auf Vinyl! Was ist denn von Whitest Boy Alive zu halten? »Auf Nummer sicher, halt genau wie die erste.« Kurz reinhören: Nein, man wird keinen Krieg anzetteln für diese Platte, da hat er Recht, mein Hippie. Der fragt sich übrigens, wie so Großmarktketten kalkulieren, wenn sie die neuen Platten von Springsteen oder U2 für 9,99 anbieten. Da zahlen die doch drauf! Die alte Geschichte: Sie rechnen damit, dass man hingeht, um billig Springsteen zu kaufen, und rausgeht mit Springsteen und einem Toaster.
Am Kassentresen raunende Männer: Bald kommt übrigens eine neue von Neil Young! Ein Typ veräußert seine Killing-Joke-Platten, bringt nicht viel ein. Ich liebe diesen Laden, aber plötzlich tun sie mir nur nochleid, die Jungs da mit ihrer Vorfreude auf Neil Young – ich muss jetzt mal ganz schnell in die Sonne. Und dann ins Kulturkaufhaus, wo einem nicht abgeraten wird von neuen Platten, wo man nur gefragt wird, ob man eine Tüte möchte. Kurz vor der Kasse ein Sampler, den man da nicht liegenlassen darf: »Final Song – 13 DJ’s share their last song on earth with you«. Ricardo Villalobos, Richie Hawtin, Kevin Saunderson, DJ Hell etc. – paar der besten also – stellen ihr Wunschlied zur Beerdigung vor, prima Vorschläge, Beach Boys, Radiohead, Stranglers, Photek. Wie oft habe ich mit meinem Kumpel Moritz überlegt, welches Lied die um uns Trauernden dermaleinst beim Wurf der letzten Blume hören sollen! Bei Moritz ist es mittlerweile eine ganze Setlist (»Words«, »Passion«, »Paradise City«, »Rock your baby« usw.), er hat schon überlegt, sich mehrmals beerdigen zu lassen. Für mich war immer nur die Frage, welches Lied genau es von den Pet Shop Boys sein soll. Seit einiger Zeit favorisiere ich für diese letzte Fahrt ein PSB-Lied, das es leider noch nicht gibt: eine Coverversion von Bacharachs »I say a little prayer«. Ich habe genau im Kopf, wie das klingen würde, und brauche jetzt sofort das Original, um in dieser Angelegenheit endlich mal weiterzukommen. Bei den Soultanten kenne ich mich zu wenig aus, Dionne Warwick? Zuhause merke ich: zu hektisch, die Dame. Die Pet Shop Boys würden dieses Lied viel langsamer anlegen, mehr so wie Aretha Franklin, sogar noch langsamer, Tennants schwebender Gesang, dazu Lowes hinterhältiges Keyboardmarzipan, mit den Chören würden sie es nicht übertreiben – und dann wäre es doch schade drum, ich hätte es ja nie gehört. Letzter Song auf Erden: Ist das der letzte, den man selbst hört, oder der Grubenfahrtssoundtrack? Kommt drauf an, wie man über das Ewige Leben denkt. Oder wie man sich bestatten lassen will. Draußen waren jetzt wirklich die angekündigten Wolken aufgezogen, ich machte Licht und dachte – zu komisch – über den Tod nach.
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