Auch Deutsche unter den Opfern
DDR«, entfährt es Willemsen, und man rätselt, warum er das sagt – ist er befeuert von den Reaktionen auf das kindlich-unkontrollierte Aussprechen ungehöriger Wendungen? Dann wären wir ja jetzt hier, in Ost-Berlin, ebenfalls in der DDR, merkt Beil an. Stimmt, sagt Willemsen und beeilt sich dann aber, die Oberhand als Proseminarsleiter zurückzugewinnen: »Darf ich als Fußnote anmerken«, flicht er nun eine Schönberg-Anekdote ein, die ihm gerade so einfällt, Schönberg, »der sich befleißigte« und so weiter und so Willemsen.
Bevor endlich die angekündigten radikalen Texte aufs Publikum niedergehen, macht Peymann den einzigen Denkansatz des Abends, indem er noch »mehr so biographisch, persönlich« zu bedenken gibt, dass »Radikalität eine Altersfrage« sei. Hier könnte zumindest interessantes Denken nun beginnen: Peymann, der tapfer irgendwelche roten Fahnen hochzuhalten behauptet mit dem doch unzweifelhaft abgestandensten Klassiker-Programm aller Berliner Theater; Peymann, dem in allem schwitzenden Eifer nie aufzufallen scheint, wie wenig es sich verträgt, dass er, auf die Qualität oder auch Bissfestigkeit seines »Reißzahns im Regierungsviertel« angesprochen, zuvörderst immer nur die hohen Auslastungszahlen anführt; Peymann, der die Rechnung nie ohne den Betriebswirt macht – wie radikal ist der nun, wie radikal kann und will er sein?
Dass aber nicht gedacht wird auf einer Bühne, speziell dann nicht, wenn es explizit angekündigt wird, hätte man sich vorher schon: denken können. Ab 20 Uhr 15 wird radikal gedacht? Nein, wirklich nicht. »Sie werfen mir den Ball zu«, erteilt Willemsen sich selbst das Wort, statt Peymann eventuell gegen dessen Willen in das wirklich Unerhörte ausufern zu lassen,denn es gibt ja ein Programm, eine Choreographie, die dieser Denk-Simulation zugrunde liegt und die sie zugrunde richtet. Jetzt möchte Willemsen aus dem Godesberger Programm der SPD vorlesen, er freut sich merklich darauf. Zwar weiß er, dass alle Denkakrobatik vor Publikum immer mit Netz und am Seil hängend stattzufinden hat, sonst versendet es sich, auch ohne Kamera – aber das Godesberger Programm mit der Überschrift »radikal« zu versehen, ist Willemsen sich zurecht sicher, das ist eine nachvollziehbare Turnübung, da denken dann alle: Huch! Echt, das steht da? Na, das klingt ja nach akutem Lafontaine! Denken wir nur an die SPD dieser Tage, ihren Bahnprivatisierungsspagat, also, denk, denk, ist es denn die Möglichkeit, chapeau – radikal, das mal so zu sehen!
Die nächste Nummer der Radikal-Revue ist Henry David Thoreaus »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat«, Beil liest den Text schön nebensächlich, er ist ein geübter Vorleser, nur hat er aufgrund seiner spontanen Ersatznominierung die ihm zugeteilten Texte nicht einüben können, und das kommt der Erträglichkeit des Vortrags zugute: Man kann und mag folgen, vielleicht hier und da denkend abzweigen, was bei Willemsen und Peymann nicht möglich ist, da sie schon mal mit diesem Programm aufgetreten sind und folglich übertrainiert vortragen, viel zu didaktisch und pointenpointiert – und die Texte so erdrosseln; sie betonen derart überdeutlich, es klingt, als beschrieben sie einem kaum Deutsch Sprechenden den Weg zum Hauptbahnhof. Im Thoreau-Text kommt das Wort »Verdauungsstörungen« vor, und wie zwei Zirkuspferde heben Willemsen und Peymann auf dieses Kommando die Köpfe und schmunzeln, das Publikum schmunzelt folgsam mit, Verdauungsstörungen, das ist wirklich lustig, diese Passage könnte ja glatt als Rochesches Feuchtgebiet durchgehen.
Zwischen den Texten moderiert Willemsen lexikalisch, wirft mit Jahreszahlen, Querverbindungen, Verweisen und Gratisfrechheiten um sich, als würde er unter Aufsicht einer 3sat-»Kulturzeit«-Jury vortanzen. Übrigens, kitscht er, alle heute vorgetragenen Texte seien »beglaubigt durch das Leiden«. Und dann liest natürlich Peymann natürlich Büchner(natürlich: den »Hessischen Landboten«), natürlich nicht, ohne diesen Text »all denen aus meiner Generation, die den Versuch unternommen haben, unsere Gesellschaft zu verändern«, zu widmen, »einige sitzen immer noch im Gefängnis, ohne Gnade« – Klar, beziehungsweise klar, wen er da meint, ebenjenem Christian hatte Peymann doch radikal eine Stelle als Bühnenarbeiter angeboten, einst hat er für Zahnbehandlungen inhaftierter Terroristen Geld gesammelt, unser Peymann, der jetzt wirklich rührend bebt: »Friede den Hütten!
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