Auch Deutsche unter den Opfern
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Trockengebiete
Charlotte Roche sieht in echt ganz anders aus als im Fernsehen, dicker, älter, graue Locken, Brille – doch halt! Das ist sie ja gar nicht, das ist Hermann Beil, der da eskortiert von Claus Peymann und Roger Willemsen die Bühne betritt. Angekündigt war: »Charlotte Roche, Claus Peymann und Roger Willemsen denken radikal und lesen Büchner, Meinhof, Bakunin, de Sade, Subcomandante Marcos, Meins, Kropotkin, Roche und andere«. Das Wort »radikal« war hervorgehoben in der Ankündigung des Berliner Ensembles für diese Abendveranstaltung auf der Probebühne des Theaters. RADIKAL! Kleingeschrieben: denken. Und so wurde es dann auch.
Der Saal ist vollbesetzt, und wer weiß, ob er das auch gewesen wäre, wenn der Name der Fehlenden nicht im Programm gestanden hätte. Schließlich denken Willemsen und Peymann ja nun nicht selten irgendwo herum. Aber mit dem, radikal gesagt, Flittchen der Saison hätte man die beiden schon gerne denken sehen. Und sie sich erst. Doch Roche ist an diesem Abend »nicht transportfähig«, erklärt nun Roger Willemsen, »ihre Darmflora ist völlig zerrüttet«, womit es ihr ja ergehe wie der Heldin ihres Romans – das Publikum lacht befreit auf, ob nun Roche selbst oder Willemsen statt ihrer die erstaunlicherweise auch 2008 noch skandalisierbaren Pipikacka-Wörter raushaut, scheint deren Wirksamkeit nicht zu beeinflussen. »Sie spricht aus, was andere nicht einmal zu denken wagen«, heißt es im Klappentext des Roche-Romans, und so standardisiert werbeblödelnd das auch klingt, die Publikumsreaktion bestätigt es. Er selbst, tut Willemsen jetzt so, als würde er, der trotz aller Vorbehalte am Ende doch bei Kerner über Afghanistan zu sprechen sich nicht scheut, sich extra biegen müssen – er selbst habe »das Thema Muschihygiene« (lach, lach, lach) bislang umfahren können, nun abersei es an ihm, die erkrankte Autorin zu vertreten, er werde am Ende des Abends aus deren Buch »Feuchtgebiete« lesen, eine Abstimmung innerhalb des spontan umbesetzten Trios habe dies ergeben, hebt er schicksalsergeben die Schultern.
Außer einem enttäuschten Fotografen verlässt niemand den Saal, obschon, wie Willemsen gelenkig doziert, »das Thema gleichwohl ein ernstes« ist: Wenn heutzutage von »Radikalen« die Rede sei, dann allenfalls im Zusammenhang mit Islamisten oder 68ern. Oder »freien Radikalen«, nicht wahr, und da hat er den ersten Nicht-Popo-Lacher kassiert. Wir hier drinnen, wir sind nicht so doof wie die Illustrierten-Leser, denkt das Publikum, wir gehen aber auch zum Lachen keineswegs in den Keller, nein, viel besser: ins Theater. Und wir sind auch immer sehr gut informiert, kritisch sowieso. Natürlich liegt Jonathan Littells »Die Wohlgesinnten« neben unserem Bett, aber das darunter liegende Roche-Buch hatten wir schneller durch. Wir haben am Vorabend vor dem Schlafengehen »das philosophische Quartett aus der Autostadt« im ZDF gesehen, mit Safranski, Sloterdijk, Prantl und Nolte, »Was ist links« war da die Fragestellung, also, wir sind schon sehr interessiert immer. Und ja irgendwo auch radikal. Dazu, dass Joschka Fischer am Samstagabend zwei Gehminuten von hier, im »Grill Royal«, seinen 60. Geburtstag gefeiert hat, haben wir ebenfalls eine Meinung, und wir legen beim Zuhören gern den Kopf leicht angewinkelt zwischen Daumen und Zeigefinger, wichtig dabei ist, so durchgängig wie kaum merklich zu nicken. Und der Herr Willemsen kann sich – ach was, uns! – so gut ausdrücken, der weiß so viel, was wir eigentlich auch wissen müssten, er kennt all die Klassiker tatsächlich, sogar auswendig, und er schlägt dann aber immer noch so Bögen, dass wir es gerade noch kapieren und sogar als unsere Empfindung wiedererkennen, nur eben kompakter formuliert, bonmotgesättigt, druckreif. Wir nicken jetzt so stark, als würden wir einer immens rhythmisierten Musik lauschen; »weniger konform« als gemeinhin üblich solle hier heut Abend gedacht werden, flötet jetzt Willemsen, na bitte, das ist doch genau unsere Kragenweite.Willemsens blaues Hemd ist oben geöffnet, es kann losgehen, radikal. Peymann schwitzt schon.
»Schönberg sagt«, sagt jetzt der angemessen ratlos zwischen den beiden Rampenradikalen auf dem Podest sitzende Ersatzhermann Beil, im Hauptberuf Peymanns Dramaturg, »ich bin immer gegen den Strom geschwommen«. Willemsen nickt. Am Vortag hat Beil eine Lesung aus Briefen und Tagebüchern von Arnold Schönberg in der Leipziger Oper abgehalten, »in der
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