Auch Deutsche unter den Opfern
habe aber im Fernsehen Türken gesehen, die das
getan hätten. Und warum auch nicht, schließlich würden Landwirte zum Beispiel für
Regen beten. Der Ausgang des Spiels jedenfalls sei göttlicher Entscheidung
unterworfen, so wie alles – bis zum Ende der Welt. Er spricht durchgängig türkisch,
Ufuk übersetzt. Dann lächelt der Geistliche und sagt auf Deutsch: Der Ball ist rund.
Und eines noch, er deutet auf meine Deutschland-Socken und sagt, ich würde ja auf
die Fahne meines Landes treten, das sei doch eigentlich nicht so gut. Auch wieder
wahr.
14 Uhr 30: Charlottenburg, Rankestraße. Im durch »Skandal-Schiedsrichter«
Hoyzer berühmt gewordenen »Café King« lässt sich der humorvolle türkische
Geschäftsführer auf eine Blödelei ein – setzt zehn Euro auf einen türkischen Sieg,
ich setze zehn dagegen. Ein Platzregen geht nieder. Adé Fanmeile?
15 Uhr 40: Kranzler-Eck, »BZ«-Sportredaktion. Die Kollegen sagen, man rechne
damit, dass Löw mit derselben Aufstellung beginnt wie gegen Portugal. Eine Meldung
kommt herein: Im Falle eines Sieges gegen Deutschland wolle der Präsident des
türkischen Fußballverbands 1111 Schafe opfern.
16 Uhr 53: Anruf bei Johannes B. Kerner in Bregenz. Die Lage, sagt Kerner,
sei völlig entspannt. Gewitter sei vorausgesagt für den Abend, aber das würden sie
dort täglich voraussagen, und es stimme nicht immer. Zur Aufstellung: Die einzige
Frage, so Kerner, sei die Frings-Frage, ob also der lädierte Frings spiele. Kerner
tippt auf einen deutschen Sieg. Er fragt den offenbar gerade neben ihm stehenden
Klopp: Oder, Jürgen? Klopp bestätigt.
17 Uhr 02: Die Sonne kommt wieder hervor, Joggingsachen anziehen,
»anschwitzen«, wie Trainingsmaßnahmen am Spieltag seit dieser EM genannt werden.
Also vom Monbijou Park aus an der Spree entlang zur Fanmeile laufen. Die Schiffe
auch beflaggt, ach nein, das sind sie ja immer. Freundschafts-Doppelbeflaggung ist
sicherlich von der Binnenschifffahrtsbehörde untersagt worden – also: nur deutsche
Fahnen an den Schiffen. Am Reichstag kommt mir Jürgen Trittin entgegen. Was tippt
der? Trittin: 2 : 1. Ohne stehen zu bleiben vergewissere ich mich: Für wen? Trittin:
Na, für uns! Bei Claudia Roth oder erst recht bei Christian Ströbele würde »2:1 für
uns« wohl Sieg für die Türkei heißen, aber bei Trittin höchstwahrscheinlich nicht.
Im Tiergarten, auch bei diesem durchwachsenen Wetter: grillende türkische Familien.
An der Fanmeiledreht sich melancholisch ein Riesenrad. Menschen
mit Fahnen aller Art, inzwischen auch vermehrt mit denen aus Alkohol, strömen gen
Großleinwand.
18 Uhr 56: Die Nachbarn stehen in Deutschland-Trikots auf dem Balkon, Bier
trinkend, lachend. Auf geht’s, ins »Grill Royal«, da warten die Freunde.
19 Uhr 30: Fachgespräche, die heute vor allem Frings-Gespräche sind.
Aberglaube, Teil zwei: Wir bestellen genau das Essen und die Getränke, die uns hier
zum Portugal-Sieg getragen haben. Im Raucherraum wird das Spiel schön groß auf die
Wand gebeamt, die vorderste Sesselreihe reservieren wir mit unseren Jacken – so, wie
die allerschlimmsten Pauschaltouristen es mit Handtüchern auf
Hotel-Pool-Liegestühlen tun. Frings »nicht in der Startelf«!
20 Uhr 21: Kerner begrüßt die Band Revolverheld, die dann zum Playback ihres
ärmlichen EM-Liedchens posiert.
21 Uhr 42: In der Halbzeitpause schnell mit der S-Bahn in die Redaktion. In
der Ferne sieht man das Fanmeilen-Riesenrad, hier und da ein Blaulicht. Großstadt,
du holde Schönheit. Wer jetzt S-Bahn fährt, wird gute Gründe haben – die Bahn ist
voll, aber niemand spricht ein Wort. Am Bellevue steigt eine Horde Mädchen ein, per
Handy-Radio hören sie die Spiel-Reportage. Schon Wiederanpfiff? Nein, sagen die
Mädchen, aber gerade habe der Frings den Löw abgeklatscht.
23 Uhr 58: Auf dem Kurfürstendamm tanzen sie schwarzrotgold, als sei soeben
die Mauer gefallen. Ich ziehe die Schuhe aus und gehe auf meinen WM-EM-Socken nach
Hause.
[ Inhalt ]
Fernsehen mit Dieter Hildebrandt
»Oh je, Mathias schwitzt – das hat er noch nie getan«, sagt Renate Hildebrandt, und es ist nicht herauszuhören, ob sie sich darüber freut oder nicht.
Donnerstagabend, zehn vor elf, die Sendung »Satire Gipfel« – von der ARD als »der ›Scheibenwischer‹ mit neuem Outfit und altem Biss« beworben – hat gerade begonnen, und Sendungsgastgeber Mathias Richling ist schon völlig
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