Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
Vom Netzwerk:
verpasst hat, bietet das ZDF
     immerhin noch die Sendung »Volle Kanne«; Gäste heute, natürlich: ein Türke und ein
     Deutscher. Fatih Çevikkollu und Matze Knop. Dieser Matze Knop gilt beim ZDF offenbar
     als witzig, als EM-Allesgucker kennt man ihn als Insassen des peinsam unkomischen
     Comedy-Missverständnisses »Nachgetreten«. Er ist auch heute Morgen natürlich zu dem
     aufgelegt, was er für Scherze hält. Nach der EM sollte er mal zur Berufsberatung
     gehen.
    9 Uhr 43: Der Nachrichtensender N24 hat einen Ted geschaltet, momentaner
     Stand: 50,7 % tippen auf einen Sieg der Deutschen, 49,3 % auf einen der Türken.
     Vielleicht sind die Antworten »Weiß nicht« oder »Mir doch egal« nicht erlaubt –
     vielleicht gibt es aber auch nur wenige, die keinerlei Emotion aufbringen
     hinsichtlich des heutigen Halbfinales Deutschland – Türkei.
    10 Uhr 24: Aus der Tiefe des Schranks die zwei Jahre nicht getragenen
     schwarz-rot-gelben Socken hervorholen, praktisch die Autoflagge für Fußgänger.
    11 Uhr 20: Zeitungskiosk. Dass der Chef des Ladens Türke ist, kam in unserer
     schönen, langjährigen Beziehung bislang keinmal zur Sprache. Aber heute! Ich bitte
     ihn, mir die Schlagzeilen der drei türkischen Tageszeitungen, die er im Angebot hat,
     zu übersetzen. »Hürriyet«: Freundschaft über alles. »Sabah«: Wenn die Rede vom Pokal
     ist: Deutschland Nebensache. »Milliyet«: Wir vertrauen euch. Er ist offenbar bestens
     integriert, denn die Übersetzung der Sabah-Schlagzeile bereitet ihm große Probleme,
     er schlägt sogar in einem Türkisch-Deutsch-Lexikon nach. Womit titeln die deutschen
     Zeitungen? Auch sie sind ganz friedlich: Aufstellung und Taktik noch offen. Poldi
     mit neuen Tor-Tricks. Eine deutsch-türkische Begegnung. Heute siegt Berlin! Und, was
     tippt der Kiosk-Besitzer? Türkei. Deutschland hat keine Chance, sagt er freundlich,
     fast mitleidig.
    11 Uhr 34: Vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt steht ein Fernsehteam. Die
     wollen sicherlich die »Stimmung« einfangen, die Stimmung vor dem Spiel. Vor dem Spiel. Das will ich auch, also werde ich ihnen helfen und ihnen gerne
     meine Socken zeigen. Sie wollen dann aber, dass ich das Alter einer Frau schätze,
     die sie auf einen Stuhl gestellt haben. Bitte – was? Ja, man wolle diese Frau
     »umstylen«, und ich solle mal sagen, für wie alt ich sie halte, so wie sie da steht,
     bevor sie dann neu eingekleidet, frisiert und geschminkt wird. Kleiner Tipp: Über 30
     sei sie. Das sehe ich auch, aber ich möchte hier niemanden beleidigen, und überhaupt
     interessiert mich heute nur Fußball, tschüss.
    11 Uhr 55: Bahnhof Zoo. Viele Autos sind beflaggt, und tatsächlich, wie seit
     Tagen überall gerührt berichtet wird, zum Teil mit türkischer und deutscher
     Flagge. Sowieso alles ist voll mit Fahnen. Autos, Häuser, Menschen.
    12 Uhr 01: Hardenbergstraße. Ich steige in das Auto des Fotografen Ufuk. Er
     ist Türke, und seit dem Sieg der Türken gegen die Tschechen funktioniert die Hupe
     seines Autos nicht mehr.
    12 Uhr 38: Provinzstraße, Wedding. Besuch bei Remzi Kaplan, dem Besitzer
     einer großen Dönerfabrik. Bei einem türkischen Tee sagt er lauter nette Sachen,
     beide sollen gewinnen – oder der Bessere – und vor allem: die Freundschaft. Wie auch
     immer das Spiel ausgeht, am Donnerstag zwischen 13 und 14 Uhr wird es in seinen drei
     Berliner Imbiss-Stuben Gratis-Döner geben. Einen Namen für die Aktion hat er noch
     nicht. Dönerstag? Findet er nicht schlecht. Er ist auch Vorstandsvorsitzender der
     Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung Berlin-Brandenburg. Die hat T-Shirts
     gedruckt mit einem Herz vorne drauf, in dem die deutsche und die türkische Fahne
     einander, ja, herzen. Freundschaft soll siegen, steht darunter.
    13 Uhr 31: In einem Hinterhof in Moabit klopfen zwei türkische Mädchen mit
     Stöcken auf einen Haufen Schafwolle. Wenn die Wolle weichgeklopft ist, füllt die
     Familie damit ihre Kopfkissen und Bettdecken. Eine deutsche Nachbarin schaut den
     Mädchen zu und murmelt: Heute kriegen se ’n Arsch voll. Sie meint wohl: Deutschland
     gewinnt. Im Vorderhaus ist eine kleine Moschee untergebracht. In einer Moschee zieht
     man die Schuhe aus – also tapse ich auf meinen schwarz-rot-gelben Socken über die
     Teppiche. Ein bärtiger Geistlicher erhebt sich vom Gebet, sagt, egal wer heute
     gewinnt, Hauptsache, niemand kränkt den anderen. Darf man für Fußball-Ergebnisse
     beten? Er selbst würde das nicht tun,

Weitere Kostenlose Bücher