Auch Deutsche unter den Opfern
Allesfresser. Plakate, Flugblätter, Programme und Reden nachBeispielen für originelle Sprachdeformationen zu durchforsten sei ihm lieber, als selbst sagen zu müssen, wo es langgehe, er wisse es schließlich auch nicht. Glücklicherweise werde das heutzutage vom Dichter auch kaum mehr verlangt, was den Freiheitsgrad der Literatur doch sehr erhöhe. Politik vielmehr wie einen Baumarkt beispielsweise betrachten: eine sich selbst genügende, abgeschlossene Welt mit eigener Sprache; das sei doch wunderbar. Ein sprachliches Spaltprodukt der Politik, ein ganz kleines, das ihn ob seines ungeheuren Resonanzraumes begeistere, sei ein Schild mit der Aufschrift »Naherholungsgebiet«.
Auch nach mehrmaligem Klingeln öffnet sich die Tür zur »Erfolgszentrale« der SPD nicht. Otto Schily hat im selben Haus sein Bürgerbüro, auch dort klingelt man heute vergeblich. An der Hauswand wieder Plakate: »Wir schaffen Chancen – CSU«, unter dem Slogan ein paar Zahlen. 1,5 Milliarden für Forschung? Das sei doch heutzutage gar nicht viel, sagt Enzensberger. »Soll die Mittelschicht weiter ausbluten?«, fragt ein FDP-Plakat. Das sei mal wieder eine dieser wahlkampftypischen Übertreibungen, Enzensberger schüttelt den Kopf: Ausbluten? Ein rituell geschlachtetes Schaf blute aus, aber doch nicht die Mittelschicht wegen irgendwelcher Steuern! Er bleibt stehen, blickt sich um auf der schönen Einkaufsstraße dieser wohlhabenden Stadt: So ein Wahlkampf mit seinen teilweise absurden Dramatisierungen zeige, dass es einen hohen Angstbedarf gebe. Wenn man all diese Gesellschaftsbeschreibungen der Oppositionsparteien ernst nähme, müsste man doch glauben, dass das ganze System kurz vor dem Zusammenbruch stehe, und davon könne nun wirklich keine Rede sein. Natürlich gebe es allerhand Versäumnisse und Mängel, ihn erstaune aber weitaus mehr, wie viel doch unbestreitbar funktioniere. Denn die sogenannte dümmste Bank, die KfW, sei doch in Wahrheit kein Einzelfall; solchen Mangel an Intelligenz, Aufmerksamkeit und Zuverlässigkeit gebe es doch überall – und trotzdem einen hohen Grad an Stabilität. Probleme von so hoher Komplexität wie etwa die langfristige Gesundheitsvorsorge seien von der Politik nicht lösbar, zwar sei das dazugehörige Illusionstheatersystemerhaltend, doch habe er nicht die Geduld, dem in Gänze beizuwohnen. Wenn es in den Nachrichten einmal mehr um die Gesundheitsreform gehe, schalte er sofort den Ton aus, er erlaube sich, da nicht mehr zuzuhören. Es gebe keine eindeutige Lösung, und wer das Gegenteil behaupte, unterschätze das Problem. Wie seine Großmutter immer gesagt habe: »Wie man’s macht, ist’s nix.« Eine Lösung könne immer nur die Reform der Reform der Reform bedeuten, dies aber dürften Politiker nun mal nicht zugeben, denn dann käme der Nächste, der behauptet, er hätte jetzt die Lösung, und dann werde der gewählt. Das seien ganz normale systemische Beschränkungen.
Was einen Menschen dazu bewege, all das auf sich zu nehmen und den Beruf des Politikers zu ergreifen, bleibe für ihn rätselhaft. Macht? Bedeute doch vor allem Kompromisse, also das Gegenteil von Macht. Dieses ständige Balancieren! Er könne nur herumraten, vielleicht sei es für manche reizvoll, bestimmte Dinge zu wissen, die andere nie oder erst später erfahren? Ich bin in dem und dem Ausschuss, und der BND muss mir Auskunft erteilen? Und die größte Verlustangst gilt der öffentlichen Aufmerksamkeit, dem Dienstwagen, der steuerfreien Kostenpauschale? Andererseits: Wie könne jemand Schauspieler sein? Der brauche ständig Publikum und Applaus – und so habe eben jeder Mensch seinen Defekt. Die Politiker seien ja nicht blöder als Vertreter anderer Berufsgruppen; weil aber eine ihrer Hauptaufgaben darin bestehe, permanent und ohne jede Scham für sich zu werben, zögen sie unweigerlich so viel Spott auf sich.
Zurück an der SPD-Bühne: Münchens Oberbürgermeister Christian Ude spricht jetzt, der Regen ist stärker geworden, aber es sind viele Menschen stehengeblieben, Ude ist ein guter Redner. Transrapid, Finanzkrise, Landesbank – Probleme über Probleme. Heute so ernst? Wo denn die Witze blieben, wundert sich Enzensberger, der Ude sei doch sonst immer so lustig? Ude wird in seiner Ansprache sehr konkret, es geht um Krankenhäuser, die Münchner nicken, dieser Mann spricht von ihrer Stadt. Das sei schon besser als dieses Gerechtigkeitsblabla, sagtEnzensberger, der argumentiere wenigstens. Über die Stromrechung müsse
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