Auch Deutsche unter den Opfern
man sprechen, nicht bloß schaumig über »die globalisierte Welt«.
Dann wird es zu nass und zu kalt, und welche Register Franz Müntefering noch ziehen wird, ahnt man ja ungefähr, also nach Hause, Abendessen bei Enzensbergers Ehefrau. Die liest momentan ein Buch über Russland im Jahr 1937 – wenn man das lese, und zugleich höre, in Deutschland herrsche heutzutage erschreckende Armut, sagt sie, dann müsse man sich schon an den Kopf fassen. Enzensberger und seine Frau haben zwei Wohnungen, das sei ein empfehlenswertes Modell, schließlich gehe man sich auch mal auf die Nerven. Vielleicht eine Idee für Berlin: zwei Kanzlerämter, eins für Merkel, eins für Steinmeier? Und so klingt der Abend heiter aus.
Freitag, 26. September 2008, Karlsplatz
Gysi und Lafontaine stünden noch im Stau, sagt die Dame am Stand der Linkspartei, die Luftballons und Buntstifte als Werbegeschenke anbietet. Auch einen Brief der beiden im Stau Stehenden an die lieben Bürgerinnen und Bürger kann man mitnehmen, bester Satz darin: »Geld ist genug da.«
»Bayern, aber gerechter«, »Für ein starkes Bayern« – und hier nun: »Bayern für alle«. Man komme ja ganz durcheinander, sagt Enzensberger.
Was wäre, wenn jetzt ein Bürger sich vor ihm aufbaute: »Sie, Herr Enzensberger, Sie waren doch auch mal Kommunist!«? Gar nichts wäre dann. Er sei doch alles Mögliche schon gewesen, sagt er schulterzuckend, zorniger junger Mann, Anarchist, Kuba-Experte, Renegat – und was denn eigentlich nicht. Bloß nie dementieren! Es gebe ja auch seit Jahrzehnten Journalisten, die voneinander abschrieben, er habe einst den Tod der Literatur verkündet. Pfffff. Völlig egal.
Keinerlei Angst vor der Linkspartei? Überhaupt nicht. Es gebe nun mal auch noch andere Traditionen als das Oktoberfest und so eben auch kommunistische Parteien in demokratischen Staaten, meistens gingendie irgendwann an sich selbst zugrunde. Und wenn sie mal acht oder neun Prozent bekämen, warum denn nicht, solange sie nicht gewalttätig würden? Sollen die doch allen alles versprechen, es gebe ja auch immer noch Hohlwelttheoretiker, die behaupten, wir lebten auf der Innenseite der Weltkugel – er verstehe nicht, wie man sich darüber aufregen könne.
»Endspurt! Nur noch 9 Tage!« Auch bei der »Tombola für München« läuft der Countdown, aber noch kann man einen Opel Corsa gewinnen.
Am Marienplatz, wo tags zuvor die SPD sich verausgabte, steht heute eine CSU-Bühne, es spricht gerade Erwin Huber: »Uns in Bayern braucht nicht bange zu sein.« Nach ein paar Minuten konstatiert Enzensberger, völlig frei zu sprechen, wie Huber es da täte, sei nicht für jeden Redner die beste Idee – so ganz ohne Pointen komme man dann doch nicht aus, ein wirklich begnadeter Redner sei Huber nicht, da nütze es auch wenig, ab und zu herumzufuchteln, wenn sich dabei nur die Arme bewegten, völlig unabhängig vom Gesagten, und der Rest des Körpers überhaupt nicht mitmache. Interessant jedoch sei hier, wie bei den meisten Politikerreden, die besondere Intonation des Wortes »Menschen«. Hier die Politiker – dort die Menschen. Seltsam, oder?
Bayern, leiert Huber nun, sei »spitze«, spitze in diesem und jenem – und das sei ein Verdienst der CSU, die anderen könnten es doch schlichtweg nicht.
Ja nun, sagt Enzensberger, immer nur »die anderen sind schlecht, wir sind gut«, das sei doch auf die Dauer etwas langweilig. Was für ein amüsanter Redner hingegen Gysi sei, der sei ja richtig tückisch, stelle Fallen, schlage Haken: Mal ein paar Sätze lang den Eindruck erwecken, man gebe dem Gegner Recht – um dann mit großem Aber zu kontern. Das sei doch herrlich. Und auch Lafontaine sei natürlich ein guter Redner, ja, auch Demagogie müsse man beherrschen.
Aber die beiden stehen ja noch im Stau.
Von »Erdrutsch« und »Zeitenwende« ist dieser Tage viel zu lesen: 50 plus oder 50 minus x? Es könne durchaus sein, sagt Enzensberger, dass es den Leuten Freude bereite, bei der Wahl die vorausgegangenenUmfragen zu widerlegen. Falls jedoch die Alleinregierung der CSU tatsächlich mal für eine Legislaturperiode unterbrochen werde, bedeute das gewiss nicht das Ende Bayerns. Demokratische Normalisierung, warum nicht? Machterhalt über einen langen Zeitraum führe zwangsläufig zu Erosionserscheinungen. Anders als in der Monarchie gebe es in der Demokratie nun mal keine Erbfolge, und die unblutige Nachfolgeregelung sei doch etwas sehr Schönes.
Bevor Beckstein die CSU-Bühne betritt,
Weitere Kostenlose Bücher