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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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einige rassistische Rufe zu hören, das ist nun weniger angenehm. Eine gut gelaunte, fröhliche Menschenmasse kann etwas Schönes sein – wenn aber die Laune der Masse kippt, wird sie bedrohlich, die Masse. Den Gegner respektvoll zu behandeln, solange man der Sieger ist, das ist einfach. Verlierenkönnen braucht Charakter.
    32. Minute: Nullzueins. »Vollkommen verdient«, wie es schmerzvergrößernd heißt – auf der Meile wird es jetzt sehr ruhig. In der Massenmitte, direkt vor der Bühne, eine fröhlich gewedelte spanische Fahne. Das ist mutig. Der Kapitän am Boden, Deutschland am Boden, sagt der Kommentator, macht aber Mut: Ballack werde getackert. Gefüllte Bierbecher fliegen, und wer bislang noch nicht nach Bier roch, tut es eben ab jetzt. Der nächste Applaus, als Angela Merkel zu sehen ist, wie sie sich über eine Schiedsrichterentscheidung zuungunsten Deutschlands zu erregen scheint – das sieht man gern, als Fanmeile. Vor deutschen Ecken und Freistößen lassen die Menschen die Hände Oooooooooo-ho zur Welle wackeln, aber ansonsten sinkt die Stimmung rapide. Vor allem die zahlreichen Mädchen begreifen das nicht: Ihre Fußballbegeisterung fußt auf deutschen Siegen. Verlieren – hä? Wie macht man denn das? Was tut, was ruft, wie guckt man dann? Die Jungs wissen, wie das geht: Sie haben jetzt jede Menge taktische Tipps für die deutsche Mannschaft, Kurzanalysen, Einwechslungsvorschläge. Oder sie beschimpfen den Gegner.
    Die Halbzeitpause verläuft traurig, es wird sich Mut gemacht, mit Bier – oder Sätzen, die mit »noch« anfangen: Noch ist es nicht zu spät. Noch ist nichts verloren. Noch 45 Minuten, noch alles drin. Eine kleine Halbzeit-Prügelei zwischen Mann und Frau hinter einem Würstchenstand wird von einem Polizisten beendet. Die Frau sagt zu dem Polizisten, das sei schon okay, der Prügelheini sei ihr Bruder. Der Polizist erklärtden beiden, dass das trotzdem nicht okay ist, sich zu hauen, egal wie verwandt man ist.
    Wiederanpfiff. Die Spanier sind weiterhin »einfach besser«, der Kommentator trampelt auf der deutschen Seele herum: Brillant, Fußball aus dem Lehrbuch – und immer ist dabei nur die Rede von den Spaniern. Es ist jetzt ganz still auf der Meile. Hier und da schreit mal einer, alle anderen: geschockt. Der in der Mobmitte, der mit der Spanienfahne, ist auf jemandes Schultern gestiegen, schwenkt mit der linken Hand seine Spanienfahne, mit der rechten eine deutsche. Endlich mal wieder so ein Völkerverbinder, die fehlen hier ein bisschen, aber immerhin wird er nicht daran gehindert.
    88. Minute: Deutschland, klatschklatschklatsch, Deutschland!
    Nee. Das war’s, Abpfiff. Ruhe.
    Manche Mädchen probieren zu weinen.
    Relativ geordneter Rückzug. Die schwarzrotgoldene Komplettausrüstung, die Euphorie, das nationale Selbstbewusstsein – all das sah eins nicht vor: eine Niederlage. Die Fahnen werden eingerollt, die Schminke kann man abwaschen. Aber weh tut es natürlich, sehr weh.

[ Inhalt ]
    Mit Hans Magnus Enzensberger unterwegs im Wahlkampf
    Donnerstag, 25. September 2008, Marienplatz
    Zwischen S-Bahn-Ausgang und Kaufhaus-Eingang der erste Kämpfer: Ein Mann läuft in einem Plakat-Sandwich umher, »Jesus!« steht groß auf den Plakaten, darunter eine wirre Weltanklage, samt Lösungsvorschlag. Hans Magnus Enzensberger holt seine Brille hervor, studiert die religiöse Sofortmaßnahmenverordnung des trotzalledem orientierungslos wirkenden Mannes. Wer sich für Jesus entscheide, könne damit sich selbst und die ganze Welt retten, steht dort in etwa, aber bevor man alles gelesen hat, ist der mit Jesus-Plakaten ummantelte Mann schon vom Fußgängerzonen-Gedränge verschluckt, vielleicht gibt es mit Jesus auch mehr Netto vom Brutto, wer weiß? Fünf Brote und zwei Fische – und alle werden satt?
    Auf der SPD-Bühne vor dem Münchner Rathaus versucht derweil ein Mann mit Losverkäuferstimme, blondgefärbten Strähnen im Haar und einer vielfarbigen Lesebrille auf der Nasenspitze, die von allen Seiten nicht herbei-, sondern vorbeispazierenden Münchner zum Stehenbleiben zu animieren; es ist der Stadionsprecher des TSV 1860 München, der natürlich sehr gut zur bayerischen SPD passt – sympathisch und Zweite Liga. Doch hat der Stadionsprecher auch ein bisschen Erste Liga zu bieten: Franz Müntefering wird kommen! Christian Ude! Und, nun ja, Franz Maget. Aber im Nieselregen kommen jetzt erstmal die Bezirkstagskandidaten nacheinander auf die Bühne. Hinter ihnen, in großen Buchstaben,

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